Zeitoun (German Edition)
der Dart Street oder in dem auf der Claiborne unterzukommen. Als er das funktionierende Telefon im Claiborne-Haus erwähnte, war das für Nasser ein Gottesgeschenk. Er musste eine ganze Reihe Verwandte anrufen, um ihnen zu sagen, dass er noch lebte.
Sie paddelten also zurück zur Claiborne und entdeckten unterwegs ein Sechserpack Mineralwasserflaschen, das mitten auf der Straße dümpelte. Sie hoben es ins Kanu und fuhren weiter.
Am Haus angekommen, stieg Nasser aus und begann, das Kanu zu vertäuen. Als Zeitoun ebenfalls aussteigen wollte, hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief.
»Zeitoun!«
Er dachte, es wäre Charlie Ray von nebenan. Aber die Stimme kam aus dem Haus hinter Charlies, auf der Robert Street.
»Hier drüben!«
Es waren die Williams’, ein über siebzigjähriges Ehepaar. Alvin war Pastor der New Bethlehem Baptist Church und saß im Rollstuhl; er war seit fünfundvierzig Jahren mit Beulah verheiratet. Zeitoun und Kathy kannten die beiden fast schon so lange, wie sie in New Orleans lebten. Als die Zeitouns noch in der Nähe wohnten, kam Pastor Williams’ Schwester regelmäßig zum Essen zu ihnen. Kathy wusste nicht mehr, wie es angefangen hatte, aber die Schwester war schon recht betagt, und sie war ganz angetan von Kathys Kochkünsten, weshalb Kathy zur Abendessenszeit stets eine Portion für sie bereithielt. Das ging monatelang so, und es rührte Kathy, dass jemand sich extra die Mühe machte, zu ihnen zu kommen, um etwas zu essen, das sie zubereitet hatte.
»Hallo!«, rief Zeitoun und paddelte zu den Williams’ hinüber.
»Meinst du, du könntest uns helfen, hier wegzukommen?«, fragte Alvin.
Der Pastor und Beulah hatten den Sturm ausgesessen, doch jetzt waren ihre Lebensmittel- und Wasservorräte erschöpft. Zeitoun hatte sie noch nie so müde gesehen.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte Alvin.
Regen und Wind machten es unmöglich, die beiden mit dem Kanu zu transportieren. Zeitoun sagte ihnen, dass er Hilfe holen würde.
Er paddelte gegen Wind und Regen die Claiborne hoch zum Memorial Medical Center, wo, wie er wusste, Polizisten und Soldaten der Nationalgarde stationiert waren. Als er näher kam, sah er Soldaten in den Eingängen, auf dem Dach, in Zufahrten und auf Balkonen. Es sah aus wie ein schwer bewachtes Militärlager. Schließlich war er so nah, dass er die Gesichter der Soldaten erkennen konnte. Zwei von ihnen hoben ihre Gewehre.
»Nicht näher kommen!«, befahlen sie.
Zeitoun bremste das Kanu. Der Wind frischte noch weiter auf. Es war unmöglich, das Kanu auf der Stelle zu halten, und schwer, sich verständlich zu machen.
»Ich suche bloß Hilfe«, rief Zeitoun.
Einer der Soldaten senkte das Gewehr. Der andere hielt seines weiter auf Zeitoun gerichtet.
»Wir können Ihnen nicht helfen«, sagte er. »Sie müssen zur St. Charles.«
Zeitoun nahm an, dass die Soldaten ihn nicht richtig verstanden hatten. Der Wind ließ das Kanu kreiseln, übertönte seine Stimme. »Ein Stück die Straße runter ist ein altes Ehepaar, das evakuiert werden muss«, erklärte er, diesmal lauter.
»Nicht unser Problem«, sagte der Soldat. »Sie müssen zur St. Charles.«
Jetzt senkte sich auch das zweite Gewehr.
»Können Sie denn niemanden hinschicken?«, fragte Zeitoun. Meinte der Soldat ernsthaft, Zeitoun sollte den weiten Weg bis zur Kreuzung Napoleon Avenue und St. Charles Avenue paddeln, wo der Mann doch einfach über Funk eine andere Einheit verständigen konnte? Was machten die denn hier, wenn sie nicht bei den Evakuierungen halfen?
»Wir können niemanden anfordern«, sagte der andere Soldat.
»Wieso nicht?«, fragte Zeitoun. »Mit eurer ganzen technischen Ausrüstung könnt ihr nicht mal jemanden verständigen?«
Jetzt wirkte der Soldat, der nur ein paar Jahre älter war als Zeitouns Sohn Zachary, verunsichert. Er hatte keine Antwort und schien nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Schließlich wandte er sich ab und ging weg. Die übrigen Soldaten starrten Zeitoun an und hielten sich an ihren M-16 fest.
Zeitoun wendete das Kanu.
Er paddelte mit schmerzenden Schultern zur Kreuzung Napoleon und St. Charles. Bei dem Wind war der Weg doppelt so anstrengend. Als er sich der Kreuzung näherte, wurde das Wasser seichter. Er sah Zelte, Militärfahrzeuge und etwa ein Dutzend Polizeibeamte und Soldaten. Er stieg aus dem Kanu und ging zu einem Mann, einem Soldaten, der auf dem grasbewachsenen Mittelstreifen stand – dem neutralen Boden, wie man in New Orleans sagte.
»Ich
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