Zeitoun (German Edition)
von sich selbst – es war schon fast komisch, wie viele Fotos sein Bruder machte und aufbewahrte und an Familienmitglieder verteilte. Er dokumentierte jeden Hafen, jedes Schiff. Auf diesem Foto grillte er mit Männern seiner Besatzung irgendwelche Tiere am Spieß. Zeitoun starrte darauf. Es sah aus wie Windhunde. Das waren doch wohl nicht …? Nein. Zeitoun hoffte inständig, dass es keine Hunde waren. Laut dem Schriftzug über den Männern war es Ostern 1978. Auf einem anderen Foto stand Ahmad mitten in der Innenstadt von New Orleans. Wenn Zeitoun dieses Bild sah und so viele andere, auf denen Ahmad vor dem Hintergrund irgendeiner Stadt oder irgendeiner Sehenswürdigkeit stand, musste er immer an die Menschen denken, die Ahmad gebeten hatte, das Foto zu machen. Auf seinen Reisen hatte Ahmad bestimmt tausend Menschen kennengelernt, meistens auf der Suche nach jemandem, der ihm half, eines fotografisch festzuhalten: Ahmad Zeitoun aus Dschabla in Syrien war hier. Hier in Tokio. Hier in Amerika. Hier in Indien.
Während Ahmad alle Teile der Welt in rascher Folge kennenlernte, war Zeitoun zu Hause in Dschabla und wollte weg. Es war ein enges Zuhause, und Zeitoun ertrug es nicht mehr. Er arbeitete in dem Baumaterialgeschäft seines Bruders Lutfi und hörte die Geschichten von Ahmads nicht enden wollenden Abenteuern, seinen Fahrten nach China, Australien, Südafrika, Holland. Zeitoun wusste, dass sein Vater zu Lebzeiten niemals damit einverstanden gewesen wäre, aber er war jetzt tot, und auch Mohammed war tot. Zeitoun wollte nicht in Dschabla versauern.
Seine Mutter wusste, wie er sich fühlte. Sie hörte, wie er oben im Haus auf und ab tigerte, sah den sehnsüchtigen Ausdruck in seinen Augen, wenn er mit Ahmad telefonierte. Daher rief sie eines Tages von sich aus Ahmad an und bat ihn, seinen kleinen Bruder mitzunehmen. Es war an der Zeit, sagte sie, dass Abdulrahman raus aus Dschabla kam und sein so schwermütig gewordenes Elternhaus verließ, wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit.
Ahmad rief seinen kleinen Bruder an und sagte ihm, dass er in ein paar Wochen in See stechen würde. Zeitoun war sprachlos. Er küsste das Telefon. Er küsste seine Mutter und seine Schwestern. Und als es so weit war, packte er einen Seesack und traf sich in Griechenland mit Ahmad.
Auf seiner ersten Fahrt als Matrose war er der jüngste Mann an Bord. Die anderen Mitglieder der Crew kamen von überall her – Südafrika, Türkei, Nigeria –, und sie nahmen ihn herzlich auf. Zeitoun war überzeugt, dass Ahmad ihn etwas härter behandelte als die anderen, um nur ja nicht in den Verdacht zu geraten, ihn zu bevorzugen, aber das machte ihm nichts aus. Er spülte und strich an und schleppte. Er machte die Arbeiten, die keiner sonst machen wollte.
Sie fuhren von Piräus nach Naxos und wieder zurück, und Zeitoun fand alles wunderbar. Er ließ sich die Haare wachsen, er verbrachte seine Freizeit an Deck, schaute sich um, sah zu, wie das Wasser auf das Schiff zukam und dahinter wieder verschwand. Die Arbeitszeiten waren mörderisch, rund um die Uhr abwechselnd vier Stunden Dienst und vier Stunden frei, doch auch das störte ihn nicht. Er brauchte keinen Schlaf, noch nicht.
Bis dahin hatte er gar nicht gewusst, wie wichtig ihm diese Art von Freiheit war. Er fühlte sich doppelt so stark und dreimal so groß wie zuvor. Und endlich verstand Zeitoun auch Ahmads Geheimnis, warum er Seemann geworden war, warum er so viel aufs Spiel gesetzt hatte, um Kapitän zu werden. Wenn sie sich an Deck auf dem Weg zu ihren unterschiedlichen Quartieren begegneten, wechselten Zeitoun und Ahmad vielsagende Blicke und lächelten verlegen. Erst jetzt erfuhr Zeitoun, was es hieß, sich frei zu fühlen, und dieses Gefühl bedeutete ihm alles. Ahmad konnte sehen, dass sein kleiner Bruder so bald nicht wieder nach Dschabla zurückkehren würde.
Sie verbrachten ihr Leben auf See, gemeinsam und getrennt, wurden älter und überschritten ihr dreißigstes Lebensjahr. Sie fuhren auf Frachtschiffen, Passagierschiffen und Kombinationen von beidem. Sie brachten Weizen aus Nebraska nach Tokio, brasilianische Bananen nach London, amerikanischen Schrott nach Indien. Sie brachten rumänischen Zement nach Nigeria, und in Nigeria kamen immer blinde Passagiere an Bord. Jedes Mal, wenn sie Lagos verließen, konnten sie sicher sein, zwei oder drei Männer irgendwo auf dem Schiff versteckt zu finden, und stets trafen sie mit ihnen dieselbe Vereinbarung: Du arbeitest für Kost und
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