Zeitoun (German Edition)
er ihnen frisches Wasser in den Napf goss. Er verschwand durchs Fenster, kletterte in sein Kanu und paddelte weiter.
Es war Zeit, nach seinem Bürogebäude zu sehen. Es lag etwa eine halbe Meile entfernt, in einer Parallelstraße der Carrollton Avenue, die von Lagern, Ladenketten und Tankstellen gesäumt wurde. Inzwischen war das Wasser verdreckt, durchzogen von Ölstreifen und voller Trümmerteile. Wer da noch hindurchwaten musste, würde ganz sicher krank werden. Doch an diesem Tag hatte er noch niemanden im Wasser gesehen. Die Stadt leerte sich. Jeden Tag waren weniger Menschen zu Fuß unterwegs, weniger Gesichter in den Fenstern zu sehen, weniger private Wasserfahrzeuge wie seines.
Den Morgen über hatte es leicht genieselt, doch jetzt wurde der Regen stärker. Wind kam auf, und der Tag wurde trübselig. Zeitoun paddelte gegen den Wind an und hatte Mühe, das Kanu zu steuern, weil sich das braunblaue Wasser kräuselte.
Er nahm den Earhart Boulevard und bog dann auf die Carrollton, um zur Dublin Street zu kommen. Er erwartete, auf der Carrollton Leuten zu begegnen – wie die Napoleon und die St. Charles bot sie sich förmlich als Wasserstraße für Militärboote an –, doch als er dort hinkam, sah er überhaupt keine offiziellen Rettungstrupps.
Stattdessen bemerkte er eine Gruppe von Männern, die sich direkt gegenüber von seinem Büro an einer Shell-Tankstelle versammelt hatte. Die Tankstelle lag höher als die Straße und stand nur knapp einen Meter unter Wasser. Die Männer waren zu acht oder neunt und trugen volle Müllsäcke aus dem Tankstellenladen in ein Boot. Es war das erste Mal seit dem Hurrikan, dass Zeitoun Zeuge einer Plünderung wurde, und auf diese Männer passte die Beschreibung derjenigen, vor denen Kathy ihn gewarnt hatte. Das war eine organisierte Gruppe krimineller Opportunisten, die sich nicht einfach nur das nahmen, was sie zum Überleben brauchten. Sie schleppten Geld und Waren aus dem Laden, und sie schlugen in einer großen Gruppe zu, damit jeder, der sie sah, es mit der Angst bekam, wie Zeitoun jetzt, und sich lieber nicht einmischte.
Zeitoun war weit genug entfernt, um sie beobachten zu können, ohne fürchten zu müssen, dass sie ihn erreichten, zumindest nicht schnell. Dennoch bremste er vorsichtshalber das Kanu ab, um in sicherer Entfernung zu bleiben, und überlegte, wie er zu seinem Büro kommen konnte, ohne direkt an ihnen vorbeizumüssen.
Aber einer der Männer hatte ihn bereits bemerkt. Er war jung, trug eine lange Jeans-Shorts und ein weißes Muskelshirt. Er straffte die Schultern und sorgte so dafür, dass Zeitoun den Griff der Pistole sah, die er im Gürtel stecken hatte.
Zeitoun schaute rasch weg. Er wollte ihn auf keinen Fall provozieren. Er wendete das Kanu und paddelte zu dem Haus auf der Claiborne. Heute würde er nicht nach dem Büro sehen.
Er traf noch vor Mittag an dem Haus ein und rief Kathy an. Sie war noch immer in Houston bei Miss Mary.
»Heute kann ich nicht nach dem Büro sehen«, sagte er.
»Warum nicht?«, fragte sie.
Er wollte sie nicht beunruhigen. Er wusste, er würde lügen müssen.
»Regen«, sagte er.
Sie sagte, dass Freunde sie angerufen hatten, um zu fragen, wo sie und Zeitoun waren, ob sie in Sicherheit waren. Wenn sie ihnen erzählte, dass ihr Mann noch immer in der Stadt war, erfolgte stets eine dreiphasige Reaktion. Zuerst waren sie bestürzt, dann machten sie sich klar, dass es Zeitoun war, über den sie hier redeten – ein Mann, um den man sich eigentlich nie Sorgen machen musste –, und schließlich fragten sie, ob er nicht vielleicht auch nach ihren Häusern sehen könnte, wenn er sowieso schon durch die Gegend paddelte.
Zeitoun freute sich über jede weitere Aufgabe, und Kathy tat ihm den Gefallen. Sie war soeben von den Burmidians angerufen worden, mit denen sie seit dreizehn Jahren befreundet waren. Ali Burmidian war Professor für Informatik an der Tulane University, und er leitete das Masjid ar-Rahmah, eine muslimische Studentenorganisation. Er und seine Frau Delilah hatten auf der Burthe Street ein Haus, das als Informationszentrum und Wohnheim für Gaststudenten aus der arabischen Welt diente.
Jetzt hatte Delilah Kathy gefragt, ob Zeitoun sich das Haus ansehen und feststellen könnte, wie groß der Schaden war. Zeitoun sagte, kein Problem, er würde das erledigen. Er kannte das Gebäude gut – im Laufe der Jahre hatte er dort gelegentlich Veranstaltungen besucht –, und er wusste, wie er dorthin kam. Er war sogar
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