Zeitoun (German Edition)
ob noch Nachbarn da waren, ob irgendwo Hilfe benötigt wurde.
Als sie die Octavia Street hinunterpaddelten, merkte Zeitoun, dass sie mit der Kraft von zweien und ohne Regen und Wind richtig schnell waren. Sie flitzten an Häusern vorbei, über Autos, um Trümmerteile herum.
Zeitoun hatte an vielen Häusern auf dieser Straße gearbeitet und wusste, dass er hier wieder zum Einsatz käme, wenn das Wasser zurückging. Mit jedem weiteren Tag drang das stehende Wasser tiefer in die Häuser ein und machte es immer unwahrscheinlicher, dass noch irgendetwas darin zu retten sein könnte.
Nasser sah den Hubschrauber zuerst.
Die Hubschrauber waren überall, doch normalerweise schwebten sie nicht so lange so tief und erst recht nicht über einem so dicht bewohnten Gebiet. Zeitoun konnte ihn durch die Bäume und über die Dächer hinweg beobachten, lange bevor er sah, worüber der Hubschrauber kreiste. Zeitoun und Nasser paddelten darauf zu, um herauszufinden, was da los war. Als sie näher kamen, bemerkten sie etwas Dunkles im Wasser, einen Baumstamm oder ein Trümmerteil. Sie paddelten weiter, spürten schon den Wind von den Rotorblättern, die Wellen, die sich nach außen ausdehnten.
Der Gegenstand im Wasser sah aus wie ein Autoreifen, glänzend und gewölbt –
Es war eine Leiche. Jetzt waren sie ganz sicher. Sie hatte sich gedreht, und nun zeigte der Kopf zu ihnen. Es war ein Mann mittlerer Größe, bekleidet mit T-Shirt und Jeans, halb unter Wasser, mit dem Gesicht nach unten.
Zeitoun blickte zu dem Hubschrauber hinauf. War da eine Bergungsaktion im Gang? Er schaute genauer hin. Nein. Ein Mann hatte eine Kamera auf die Leiche gerichtet. Nachdem er eine Weile gefilmt hatte, stieg der Hubschrauber höher, schwenkte ab und flog davon.
Zeitoun und Nasser hielten Abstand. Zeitoun kannte zu viele Menschen hier in der Gegend. Falls das ein Nachbar oder Bekannter war, dann wollte er ihn nicht so sehen.
Sie waren erschüttert und paddelten schweigend zu dem Haus auf der Claiborne. Zeitoun hätte niemals gedacht, dass er eines Tages so etwas sehen würde, eine Leiche, die keine Meile von seinem Haus entfernt in verdrecktem Wasser trieb. In seinen geistigen Kategorien gab es keinen Raum für einen solchen Anblick. Das Bild stammte aus einer anderen Zeit, einer gänzlich anderen Welt. Es erinnerte ihn an Kriegsfotos, verwesende Leichen auf vergessenen Schlachtfeldern. Wer war der Mann?, dachte Zeitoun. Hätten wir ihn retten können? Zeitoun konnte sich nur vorstellen, dass die Leiche weit abgetrieben war, dass die Strömung den Mann vielleicht aus der Nähe des Lake Pontchartrain bis in Zeitouns Wohngegend getragen hatte. Alles andere ergab einfach keinen Sinn. Er wollte gar nicht an die Möglichkeit denken, dass der Mann Hilfe gebraucht und keine bekommen hatte.
Als Zeitoun das Kanu an der Veranda des Claiborne-Hauses festband, klingelte drinnen das Telefon. Er ging ran, und es war sein Bruder Ahmad.
»Ich wünschte, du würdest die Stadt verlassen«, sagte Ahmad.
»Mir geht’s gut. Es wird mit jedem Tag sicherer«, sagte Zeitoun. Er hatte nicht vor, Ahmad von der Leiche zu erzählen.
»Meine Kinder haben Angst um dich.« Ahmads Sohn Lutfi und seine Tochter Laila hatten seit dem Sturm unermüdlich CNN gesehen. Sie sahen die Bilder von Zerstörung und Verzweiflung und konnten nicht fassen, dass ihr Onkel mittendrin steckte.
»Sag ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen«, sagte Zeitoun. »Und grüß sie von mir.«
Zeitoun war dankbar für die ständige Sorge seines Bruders. Die Geschwister Zeitoun standen sich alle sehr nahe, aber keiner von ihnen sorgte sich mehr und investierte mehr Zeit in das Sammeln und Aktualisieren von Adressen, Telefonnummern und Fotos als Ahmad. Vielleicht lag es daran, dass er in Spanien lebte und sich isoliert von ihnen fühlte, doch auf jeden Fall wusste er immer gerne, wo seine Geschwister waren und was sie so trieben. Und sein besonderes Interesse galt Abdulrahman, was einige Jahre zuvor einmal dazu geführt hatte, dass Ahmad mitten am Tag in New Orleans anrief und einen höchst seltsamen Vorschlag machte.
»Was macht ihr heute?«, fragte er.
Es war Samstag, und Zeitoun wollte mit Kathy und den Kindern gerade zum See fahren.
»Kennst du die Kreuzung Bourbon Street und St. Peter Street?«
Zeitoun bejahte.
»Ich hab eine Idee«, sagte Ahmad und erklärte dann, dass er eine Webseite gefunden hatte, die Livebilder einer Webcam an genau dieser Kreuzung zeigte. Wenn Zeitoun dorthin
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