Zeitoun (German Edition)
logischen Grund dafür erkennen. Es mochte ja mühselig sein, die Gefangenen in den Bahnhof zu eskortieren, damit sie ihren Anruf tätigen konnten, aber würde das Gefängnis durch diese Anrufe nicht letztlich einige der Inhaftierten schneller wieder loswerden? Er nahm an, dass in normalen Gefängnissen viele Häftlinge innerhalb weniger Tage wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, weil ihnen Kaution gewährt wurde oder sich die Vorwürfe als grundlos erwiesen oder die Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurden.
Die Verweigerung des Telefonanrufs war demnach eine reine Strafmaßnahme, genau wie die Pfefferspray-Aktion gegen den Kind-Mann aus einer Kombination von sich bietender Gelegenheit, Grausamkeit, Unsicherheit und aus einer Laune heraus entstanden war. Es lag keinerlei Nutzen darin, ebenso wie keinerlei Nutzen darin lag, allen Gefangenen die Kontaktaufnahme mit der Außenwelt zu untersagen.
Ach Kathy, dachte er. Kathy, es tut mir so leid. Zachary, Nademah, Aisha, Safiya, heute Nacht tut es mir so schrecklich leid, dass ich nicht bei euch war und nicht bei euch bin.
Gegen zwei oder drei Uhr morgens waren die meisten Gefangenen eingeschlafen, und diejenigen, die noch wach blieben, wie Zeitoun, waren ruhig. Wieder weigerte sich Zeitoun, auf dem Asphalt zu schlafen, und konnte nur dann ein wenig die Augen schließen, wenn er sich über die Stahlstange legte.
Er wusste, dass die äußeren Bedingungen seine Psyche allmählich stark belasteten. Bis jetzt war er wütend gewesen, aber er hatte klar denken können. Das fiel ihm nun zunehmend schwer. Er hatte wilde Fluchtgedanken. Er überlegte, ob ihm hier womöglich etwas wirklich Schlimmes zustoßen könnte. Und die ganze Nacht über dachte er an den Kind-Mann und hörte seine Schreie. Unter normalen Umständen wäre er jedem zu Hilfe geeilt, der so gequält wurde, wie dieser Mann gequält worden war. Tatenlos zusehen zu müssen, in dem Wissen, wie pervers das war – das allein war schon eine Strafe auch für die übrigen Gefangenen. Es nahm ihnen allen einen Teil ihrer Menschlichkeit.
DONNERSTAG , 8. SEPTEMBER
Zeitoun wurde von Schreien und Flüchen geweckt. Irgendwie war es ihm in den frühen Morgenstunden gelungen, ein wenig einzudösen, während er über der Stahlstange lag. Er richtete sich auf und sah, dass am Ende der Käfigreihe weitere Gefangene besprüht wurden.
Jetzt zielten die Wachen mit dem Pfefferspray durch den Zaun. Sie machten sich nicht mehr die Mühe, die Gefangenen aus den Käfigen zu holen. Durch diese Taktik wurde die Dosierung für den Einzelnen geringer, doch dafür wurde der gesamte Komplex eingenebelt. Nachdem Zeitoun und Nasser gebetet hatten, waren sie und die übrigen Gefangenen den ganzen Vormittag über damit beschäftigt, Augen und Mund mit ihren Hemden zu schützen, und von dem Gift bekamen sie einen Hustenanfall nach dem anderen.
Der Splitter in Zeitouns Fuß hatte sich mittlerweile entzündet. Über Nacht hatte sich die Stelle dunkelblau verfärbt, und er konnte den Fuß nicht mehr belasten. Er hatte bei seinen Arbeitern, von denen die meisten nicht krankenversichert waren und sich daher scheuten, zum Arzt zu gehen, gesehen, was passierte, wenn Verletzungen ignoriert wurden. Gebrochene Finger blieben ungerichtet, scheußliche Schnittwunden wurden nicht behandelt und zogen allerlei Erkrankungen nach sich. Zeitoun hatte keine Ahnung, was genau da in ihm steckte, aber er wusste, dass es baldmöglichst herausgeholt werden musste. Er brauchte nur einen ruhigen Moment, eine sterile Nadel oder auch ein Messer. Irgendetwas, um den Fuß aufzuschneiden und den Fremdkörper herauszuholen.
Es tat höllisch weh, und Zeitouns Käfiggenossen versuchten, ihm zu helfen, eine Lösung zu finden – irgendetwas Scharfes, das man verwenden konnte. Aber keiner von ihnen hatte auch nur einen Schlüssel bei sich.
Wenige Minuten später trat ein Mann aus dem Bahnhof und kam auf Zeitoun zu. Er trug eine grüne Krankenhauskluft und hatte ein Stethoskop um den Hals hängen. Er war korpulent, hatte ein freundliches Gesicht und einen watschelnden Gang. Die Erleichterung, die Zeitoun in den Sekunden empfand, als der Mann auf ihn zukam, war unermesslich.
»Doktor!«, rief Zeitoun.
Der Mann wurde nicht langsamer. »Ich bin kein Arzt«, sagte er und ging weiter.
Das Frühstück bestand erneut aus Feldrationen, ein mit Schinken gefülltes Omelett, und wieder gaben Zeitoun und Nasser ihr Schweinefleisch an Todd und Ronnie ab. Aber diesmal gab es
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