Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
ihnen geschehen würde.
    Zeitoun war nach wie vor überzeugt, dass ihn ein einziger Telefonanruf befreien würde. Er war ein erfolgreicher und allseits bekannter Mann. Sein Name war vielen in New Orleans geläufig. Er musste nur Kathy erreichen, und sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu ihm zu kommen.
    Den ganzen Tag über postierte Zeitoun sich daher eisern an der Gittertür, winkte mit einer Serviette, um die Wärter auf sich aufmerksam zu machen und sie anzuflehen, ihm einen Telefonanruf zu gewähren. Den Wärtern schien es richtig Spaß zu machen, sich immer neue Gründe auszudenken, ihm seine Bitte abzuschlagen.
    »Das Telefon ist kaputt«, sagten sie.
    »Heute nicht.«
    »Die Leitungen sind unterbrochen.«
    »Vielleicht morgen.«
    »Und was krieg ich dafür?«
    »Nicht mein Problem. Ihr seid nicht unsere Gefangenen.«
    Das war das erste, aber nicht das letzte Mal, dass Zeitoun das zu hören bekam. Er war kein verurteilter Straftäter, der für längere Zeit ins Hunt Correctional Center überstellt worden war. Somit war er eigentlich kein Hunt-Häftling, und die Wärter waren nicht an das übliche Prozedere gebunden. Sie erklärten Zeitoun wieder und wieder: »Für dich ist die FEMA zuständig.«
    Die Katastrophenschutzbehörde FEMA war verantwortlich für seine Haft, sagten sie, und für die aller in New Orleans Festgenommenen. Das Elayn Hunt Correctional Center stellte lediglich den Platz zur Unterbringung dieser Männer zur Verfügung, war jedoch ansonsten weder für ihr Wohlergehen noch für die Wahrung ihrer Rechte zuständig.
    Die Nacht kam, aber sie war kaum vom Tag zu unterscheiden. Um zehn wurden die Lichter gelöscht, doch das Gefängnis war erfüllt von lauten Stimmen. Gefangene sprachen, lachten, schrien. Aus allen Winkeln drangen verschiedenste, nicht einzuordnende Geräusche. Schläge, Ächzen. Der Rauch schien dichter zu werden, je länger die Nacht währte. Es roch ranzig – nach Zigaretten, Marihuana, altem Essen, Schweiß, Verfall.
    Der Schmerz in Zeitouns Seite war schlimmer geworden. Es war ein pochender Schmerz, als wäre seine Niere entzündet. Er machte sich über solche Dinge eigentlich nie sonderlich Sorgen, aber was, wenn Kathy recht gehabt hatte, wenn die Gifte in New Orleans ihren Weg in seinen Körper gefunden hatten? Oder vielleicht war es das Pfefferspray in Camp Greyhound – es war wahrhaftig genug von dem Zeug in seine Lungen gelangt, um eine innere Reaktion auszulösen.
    Aber er blendete den Schmerz aus. Sein einziger Gedanke war Kathy. Sie hatte jetzt seit vier Tagen nichts mehr von ihm gehört. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie durchleiden musste. Wie wäre es um seinen Verstand bestellt, wenn sie vier Tage lang vermisst wäre? Er hoffte, dass sie den Kindern nichts gesagt hatte. Er hoffte, dass sie es niemandem gesagt hatte. Er hoffte, dass sie Trost in Gott gefunden hatte. Gott hatte einen Plan, da war er sicher.
    In den frühen Morgenstunden erinnerte sich Zeitoun, geschwächt von zu wenig Schlaf und Nahrung und dem düsteren Nichts seiner Umgebung, an die Koranpassage al-Takwir, »Das Zusammenfalten«.
Im Namen Gottes,
des Erbarmers, des Barmherzigen
Wenn die Sonne zusammengefaltet wird,
und wenn die Sterne herabfallen,
und die Berge sich rühren,
und die trächtigen Kamelstuten vernachlässigt werden,
und wenn die wilden Tiere sich versammeln,
und wenn die Meere anschwellen,
und wenn die Seelen gepaart werden,
und wenn das lebendig begrabene Mädchen gefragt wird,
um welcher Sünde willen es getötet ward,
und wenn die Blätter aufgeschlagen werden,
und der Himmel weggezogen wird,
und wenn der Höllenpfuhl entflammt wird,
und wenn das Paradies nahegebracht wird,
dann wird jede Seele wissen, was sie getan hat.
Nein! Ich schwöre bei den rücklaufenden Sternen,
den eilenden und sich verbergenden,
und bei der Nacht, wenn sie dunkelt,
und dem Morgen, wenn er Atem schöpft,
siehe, dies ist wahrlich das Wort eines edlen
Gesandten,
der begabt ist mit Macht
bei dem Herrn des Thrones und in Ansehen steht,
dem gehorcht wird und der getreu ist.
Und euer Gefährte ist kein Besessener.
    SAMSTAG , 10. SEPTEMBER
    Wieder hatte Zeitoun nicht geschlafen. Am Abend zuvor waren die Neonlampen an der Decke um zehn Uhr ausgemacht und um drei Uhr morgens wieder eingeschaltet worden. In diesem Gefängnis galt drei Uhr morgens als Tagesbeginn.
    Nachdem er und Nasser gebetet hatten, versuchte Zeitoun, ein bisschen in der Zelle zu trainieren. Sein Fuß

Weitere Kostenlose Bücher