Zeitoun (German Edition)
an die Einfahrt in einen Hafen nach einer langen Seereise; an die Versuchung, vom Schiff zu springen und auf der festen und grenzenlosen Erde zu tanzen und zu rennen.
Vierzig Meilen weiter sah Zeitoun ein Schild am Straßenrand, das die Stadt St. Gabriel ankündigte. Er fasste das als positives Zeichen auf oder als einen makabren Scherz. Im Islam gilt der Erzengel Gabriel, derselbe Gabriel, der in der Bibel der Jungfrau Maria die Geburt Jesu vorhersagte, als der Gesandte, der dem Propheten Mohammed den Koran offenbarte. Im Koran hat Gabriel sechshundert Flügel, und er soll Mohammed begleitet haben, als er zum Himmel auffuhr.
Vor einer Anlage, die auf den ersten Blick wie ein Country Club wirkte, wurde der Bus langsamer. Man sah eine große grüne Rasenfläche, umgeben von einem weißen Zaun, wie man ihn um Pferdekoppeln findet. Der Bus bog ab und rollte durch ein gemauertes Tor. Ein Schild verriet Zeitoun, wo sie waren: ELAYN HUNT CORRECTIONAL CENTER. Es war ein Hochsicherheitsgefängnis. Die meisten Männer im Bus wirkten nicht überrascht. Es herrschte absolute Stille.
Sie fuhren eine lange, von ordentlich gestutzten Bäumen gesäumte Einfahrt hinunter. Weiße Vögel stoben auseinander, als sie ein weiteres Tor erreichten; dieses ähnelte einer Mautstation auf dem Highway. Eine Wache winkte den Bus durch, und gleich darauf fuhren sie auf das Gefängnisgelände.
Das Hunt Correctional Center war ein Komplex flacher Backsteinbauten, die sich auf einer makellos grünen Anlage verteilten. Alles war in akkuraten Rastern angeordnet. Die Stacheldrahtzäune glänzten in der Sonne. Das Gras leuchtete und war frisch gemäht. In der Ferne klickten und kreisten Rasensprenger.
An Tischen, die man draußen aufgestellt hatte, wurden die Gefangenen der Reihe nach aufgenommen. Zeitouns Einlieferungsgespräch mit zwei höflichen Frauen gestaltete sich kurz. Sie stellten Fragen nach seinem Gesundheitszustand, wollten wissen, ob er irgendwelche Medikamente nahm, welche Lebensmittel er nicht aß. Er staunte, wie professionell und respektvoll sie sich verhielten. Ihm kam der Gedanke, dass dieses hohe Maß an Professionalität bedeuten konnte, dass man sich hier an die Standardregeln hielt – zum Beispiel, dass Beschuldigte jemanden anrufen durften – und er in ein oder zwei Tagen frei wäre. Zumindest würde Kathy erfahren, dass er noch lebte. Das war alles, was zählte.
Man brachte sie in einen Umkleideraum und befahl ihnen, sich nackt auszuziehen. Zeitoun tat es, im Beisein von einem Dutzend anderer Männer, und da sie so viele waren, fürchtete er keine Leibesvisitation oder gewaltsamen Übergriffe. Er zog T-Shirt, Shorts und Unterwäsche aus, und Gefängnismitarbeiter nahmen alles mit.
Er und die anderen Gefangenen bekamen orangefarbene kurzärmelige Overalls. Sie bekamen keine Unterwäsche. Zeitoun stieg in den Overall, zog den Reißverschluss zu und schlüpfte wieder in seine Sandalen.
Sie wurden wieder in einen Bus verfrachtet und über das Gefängnisgelände gefahren – eine Ansammlung von geometrisch angeordneten Gebäuden mit blauen Dächern. Der Bus hielt vor dem, wie es schien, letzten Block in dem Bereich des Gefängnisses, der offensichtlich am besten gesichert war.
Zeitoun und die anderen im Bus wurden in einen der langen Zellenblöcke gebracht. Man führte ihn über einen langen Betonflur und dann in eine Zelle. Sie war höchstens ein Meter achtzig mal zweieinhalb Meter groß und eigentlich als Einzelzelle gedacht. Nasser war schon drin. Die Tür schloss sich. Die Gitter waren himmelblau.
Die Zelle war komplett aus Zement. Die Toilette war aus Zement geformt und stand in der Mitte der Zelle. Das Bett auf einer Seite des Raumes bestand aus Zement mit einer Gummimatratze darauf. An der rückwärtigen Wand war ein kleines Fenster mit einer dicken Plexiglasscheibe. Das undeutliche weiße Quadrat in dem Fenster war vermutlich der Himmel.
Zeitoun und Nasser wechselten kaum ein Wort. Es gab nichts zu sagen. Sie wussten beide, dass ihre ohnehin schon schlimme Situation sich soeben deutlich verschlechtert hatte. Die beiden syrischstämmigen Amerikaner waren isoliert worden. Als sie noch mit Todd und Ronnie zusammen in dem Käfig gewesen waren, hatte immerhin die Aussicht bestanden, dass die Anschuldigungen gegen sie – so sie denn endlich erhoben wurden – auf Plünderei beschränkt bleiben würden. Aber jetzt waren die beiden Syrer von den Amerikanern getrennt worden, und es war nicht abzusehen, was weiter mit
Weitere Kostenlose Bücher