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Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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ihm das Formular und schob den Wagen weiter den Gang hinunter.
    Zeitoun füllte das Formular aus, und als sie auf dem Rückweg wieder vorbeikam, gab er es ihr mit.
    Nach dem Abendessen erzählten sich Zeitouns Zellengenossen Geschichten, die sie bei Begegnungen mit anderen Gefangenen gehört hatten. Die Häftlinge, die in den ersten Tagen nach dem Sturm in Hunt angekommen waren, hatten unvorstellbare Bedingungen erleiden müssen.
    Die Tausenden Insassen des städtischen Gefängnisses von New Orleans, darunter auch solche, die wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit, Ladendiebstahls oder anderer kleinerer Delikte einsaßen, waren auf die Überführung der Broad Street gebracht und dort drei Tage lang festgehalten worden. Das Fernsehen hatte Bilder von ihnen gezeigt, ein Meer aus Männern in Orange, die auf einer mit Fäkalien und Abfall übersäten Fahrbahn saßen, umringt von Wachen mit Automatikgewehren.
    Als endlich Busse eintrafen, wurden die Häftlinge nach Hunt gefahren. Anstatt sie innerhalb des Gefängnisses unterzubringen, brachte man sie in das Footballstadion auf dem Gelände. Dort mussten sie etliche Tage zubringen, im Freien, ohne irgendeine Form von Schutz. Tausende Häftlinge, von Mördern und Vergewaltigern bis hin zu Verkehrssündern und Taschendieben, wurden gemeinsam auf dem Rasen im Stadion sich selbst überlassen.
    Es gab keine Toiletten. Die Häftlinge urinierten und defäkierten, wo immer es ging. Es gab keine Kissen, Laken, Schlafsäcke oder trockene Kleidung. Die Männer bekamen jeder eine dünne Decke. Hunt war auf Marschland erbaut worden, und in der Nacht wurde der Boden nass. Die Männer schliefen im Matsch, ohne Schutz vor den Elementen, vor Mücken oder voreinander. Es kam mehrfach zu Messerstechereien. Männer kämpften um Decken.
    Wasser gab es aus zwei kleinen Rohren, die aus dem Boden ragten. Die Männer mussten abwarten, bis sie an der Reihe waren, und dann aus der hohlen Hand trinken. Verpflegt wurden sie, indem die Gefängniswärter Sandwiches zu Kugeln zusammendrückten und über die Stadionmauer aufs Spielfeld warfen. Wer eines auffing, aß. Wer sich durchsetzen konnte, aß. Viele aßen überhaupt nicht.
    Keiner der Männer in Zeitouns Zelle wusste, ob diese Häftlinge noch in dem Footballstadion waren oder nicht oder was sonst aus ihnen geworden war.
    MONTAG , 12. SEPTEMBER
    Am Morgen wurden die anderen vier Männer aus der Zelle geholt, und Zeitoun und Nasser waren wieder allein. Sie hatten nichts zu tun, außer auf irgendein neues Gesicht zu warten, auf irgendjemanden, der der Außenwelt übermitteln könnte, dass sie hier waren.
    Die Langeweile war quälend. Sie hatten keine Bücher bekommen, kein Papier, kein Radio. Die beiden Männer konnten bloß die grauen Wände anstarren, den schwarzen Boden, die himmelblauen Gitterstäbe oder einander. Aber sie hatten Angst, zu viel zu reden. Sie vermuteten, irgendwie überwacht zu werden. Wenn ein Spitzel, Jerry, zu ihnen in den Freiluftkäfig gesperrt worden war, schien es naheliegend, dass ihre Gespräche hier, in einem Hochsicherheitsgefängnis, abgehört wurden.
    Zeitoun setzte sich, mit dem Rücken ans Bett gelehnt, und schloss die Augen. Er wollte bloß, dass diese Tage vergingen.
    Immer wieder ließ er ihre Festnahme Revue passieren, die Stunden und Tage davor, und versuchte, dahinterzukommen, wieso sie solche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Vielleicht hatte allein der Umstand gereicht, dass sich vier Männer zusammen in einem Haus aufhielten? Nach einem Hurrikan, während dessen der Großteil der Stadt evakuiert worden war, musste so etwas näher untersucht werden, das räumte er ein. Aber es hatte keine Untersuchung gegeben. Es hatte keine Fragen gegeben, keine Beweisaufnahme, keine Anklageerhebung.
    Kathy machte sich oft Gedanken wegen der Nationalgarde und anderer Soldaten, die aus dem Irak und Afghanistan in die Vereinigten Staaten zurückkehrten. Sie warnte Zeitoun davor, in Flughäfen Gruppen von Soldaten allzu nahezukommen, an Diensträumen der Nationalgarde vorbeizugehen. »Die sind dazu ausgebildet, Menschen wie dich zu töten«, sagte sie manchmal zu Zeitoun und meinte das nur halb im Scherz. Sie wollte nicht, dass ihre Familie in einem Krieg, der keine erkennbaren Fronten, keine richtige Gestalt und keine Regeln hatte, zum Kollateralschaden wurde.
    Fast zwanzig Jahre zuvor hatte er auf einem Tanker namens Andromeda gearbeitet. Sie hatten Öl aus Kuwait nach Japan gebracht und waren auf dem Rückweg nach

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