Zeitoun (German Edition)
seine Gefangenschaft einen gänzlich anderen Charakter an. Und auch wenn er sich gegen diesen Gedanken sträubte, war es wirklich so unvorstellbar, dass er, wie so viele andere, an einen unbekannten Ort gebracht werden könnte – in eines der Geheimgefängnisse im Ausland? Nach Guantánamo?
Er war eigentlich nicht der Typ Mensch, der zu derlei Befürchtungen neigte, genauso wenig wie zu Verschwörungstheorien oder zu der Ansicht, die US-Regierung begehe willkürlich Menschenrechtsverletzungen. Aber es schien fast so, als käme jeden Monat ein neuer Fall ans Licht, in dem jemand, der aus dem Iran stammte, aus Saudi-Arabien, aus Libyen, Syrien oder irgendeinem anderen muslimischen Land, nach Monaten oder Jahren aus einem dieser Gefängnisse entlassen wurde. Meistens ähnelten sich die Geschichten: Ein Muslim geriet ins Visier der US-Behörden, und aufgrund der derzeitigen, vom Präsidenten erteilten Vollmachten konnten US-Agenten den Mann irgendwo in der Welt überwältigen und ihn an irgendeinen anderen Ort in der Welt verschleppen, ohne ihn jemals wegen einer Straftat anklagen zu müssen.
War Zeitouns jetzige Situation so anders? Er saß ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft, ohne Anklage, ohne die Möglichkeit, Kaution zu stellen, ohne Gerichtsverfahren. Wäre es dem Heimatschutzministerium nicht sogar ganz recht, einen weiteren Namen auf seine Liste gefährlicher Personen zu setzen? In den Köpfen mancher Amerikaner war schon allein die Vorstellung, dass zwei Syrer nach einem Hurrikan gemeinsam durch New Orleans paddelten, mehr als verdächtig. Selbst für den dilettantischsten Propagandisten wäre das Stoff genug, um finstere Bedrohungsszenarien zu zeichnen.
Zeitoun gab sich solchen Gedanken nicht leichtfertig hin. Sie liefen allem zuwider, was er von seiner Wahlheimat wusste und glaubte. Aber andererseits kannte er die Geschichten. Professoren, Doktoren und Ingenieure waren festgenommen worden und monate- und jahrelang verschwunden, alles im Namen der nationalen Sicherheit.
Warum dann nicht auch ein Anstreicher?
MITTWOCH , 14. SEPTEMBER
Der Schmerz in Zeitouns Seite wurde übermächtig. Wenn er stand oder sich falsch hinsetzte, konnte er kaum atmen. Er brauchte Hilfe.
Als er den Rollwagen der Krankenschwester im Gang hörte, sprang er auf, um sie am Gitter abzufangen.
»Haben Sie dem Arzt mein Formular gegeben?«, fragte er sie.
Sie sagte, ja, das habe sie, und er würde bald Bescheid bekommen.
»Du siehst krank aus«, sagte Nasser.
»Ich weiß«, sagte Zeitoun.
»Du hast zu viel abgenommen.«
»Die Schmerzen. Sie sind so stark.«
Zeitoun hatte den plötzlichen und seltsamen Gedanken, dass die Ursache für den Schmerz in seiner Seite vielleicht keine Infektion oder Verletzung war, sondern Kummer. Vielleicht hatte der Schmerz gar keinen medizinischen Grund. Vielleicht war er bloß der körperliche Ausdruck seines Zorns, seiner Traurigkeit und Ohnmacht. Er wollte, dass das alles nicht wahr war. Es sollte nicht wahr sein, dass sein Haus und seine Stadt unter Wasser standen. Es sollte nicht wahr sein, dass seine Frau und seine Kinder fünfzehnhundert Meilen weit weg waren und ihn womöglich inzwischen für tot hielten. Es sollte nicht wahr sein, dass er jetzt und vielleicht für alle Zeit ein Mann in einem Gefängnis war, versteckt, nicht mehr Teil dieser Welt.
DONNERSTAG , 15. SEPTEMBER
Inzwischen kannte Zeitoun das rhythmische Klicken des Medikamentenwagens wie seinen eigenen Herzschlag. Er sprang an die Gittertür, sobald er es hörte.
»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte er.
»Worüber?«, sagte die Krankenschwester.
»Über meinen Zustand«, sagte er. »Sie haben ihm doch das Formular gegeben.«
»Ach, wissen Sie was? Ich glaube, er hat’s gar nicht bekommen. Füllen Sie lieber noch mal eins aus«, sagte sie und reichte ihm ein neues Formular.
An diesem und am nächsten Tag sah er sie nicht wieder.
Inzwischen fühlte Zeitoun sich schwach, wenn er aufstand. Er aß nicht genug. Es schien, als bestünde jede Mahlzeit hauptsächlich aus Schweinefleisch. Und selbst wenn er das, was ihnen gebracht wurde, essen konnte, war er oft zu aufgebracht oder niedergeschlagen, um etwas herunterzubekommen.
Nach dem Mittagessen kamen drei Wärter. Die Zellentür öffnete sich, und sie traten ein. Zeitoun bekam Handschellen und Fußfesseln angelegt und wurde aus der Zelle geführt. Sie brachten ihn in ein anderes Gebäude und steckten ihn in eine andere, eine leere Zelle. Jetzt war er allein.
Er und Nasser
Weitere Kostenlose Bücher