Zeitriss: Thriller (German Edition)
Hand hielt sie einen zinnoberroten Brief und zeigte damit auf Randall. »Keine drei Stunden nachdem die Gefangenen im Feldlager der Alliierten angekommen waren, ließ Lord Elgin seine Soldaten antreten!«, berichtete sie gereizt. »Er hat tausend Männer zurückgelassen, die die Kanonen und das Lager bewachen. Alle anderen marschieren nach Norden.«
Randall dachte als Erstes an Jehol, doch das lag eigentlich zu weit im Gebirge, und der Winter näherte sich schnell. »Wohin wollen sie?«, fragte er. »Einen Angriff auf Peking werden sie nicht wagen.«
Cixi stampfte mit dem Fuß auf wie ein bockiges Kind. »Sie ziehen zum Sommerpalast, Yuan Min Yuan!«
Sowie sie es ausgesprochen hatte, war Randall klar, dass Parkes genau das im Sinn gehabt hatte. Er und Elgin würden die größten Schätze des Reiches an sich reißen, und weil der Palast nicht innerhalb der Stadtmauer Pekings lag, hätten sie sich dennoch an die Vereinbarung gehalten.
»Ihr habt Euch getäuscht!«, sagte Cixi beißend. »Ich sehe es Eurem Gesicht an. Ihr habt diesen verräterischen Gesandten laufen lassen, und wie es scheint, hat sich Euer Mitgefühl in unverhohlene Nichtachtung verwandelt.«
»Was für eine Befestigung hat der Palast?«, fragte er.
»So gut wie keine«, antwortete Cixi frustriert. »Dort leben tausend Diener und zweihundert Palastwachen. Kaum genug, um einen Angriff abzuwehren. Sie können von allen Seiten mühelos überrannt werden.« Mit schmalen Augen sah sie Randall an. »Ihr habt versagt.«
Zorn flammte in ihm auf. »Wie könnt Ihr es wagen, so mit mir zu reden!«, knurrte er. »Ich bin gekommen, um die Verbotene Stadt zu schützen – und geschützt habe ich sie. Elgin wird Peking nicht angreifen, weil er meine Rache fürchtet. Dass der Sommerpalast außerhalb der Mauern liegt ist bedauerlich. Aber die Verbotene Stadt ist sicher, und damit seid auch Ihr und Euer Sohn es, das ist das Wichtigste. Nur so wird die Herrschaft der Qing fortbestehen.«
»Aber der Sommerpalast ist mir der liebste Platz auf Erden«, beharrte Cixi in weichem Ton. Randalls Wutausbruch schien sie besänftigt zu haben. »Es muss ein Mittel geben, um ihn zu bewahren.«
Randall dachte darüber nach, doch die Zeit und seine Unkenntnis der Zukunft waren gegen ihn. Nach der Geschichte, wie er sie gelernt hatte, war Lord Elgin nicht zum Sommerpalast gezogen. Schließlich sagte er: »Wenn Ihr die Wahl zwischen der Verbotenen Stadt und dem Sommerpalast hättet, was würdet Ihr schützen wollen?«
»Beide.«
»Beides geht nicht.«
Cixi rang die Hände. »Yuan Min Yuan ist von erlesener Pracht. Dort stehen auch drei abendländische Paläste, die schöner und erhabener sind, als man sie in Europa findet.«
»Ich kann nichts versprechen«, erwiderte Randall. »Nur hoffen, dass Elgin und Parkes die Schönheit, die Qianlong da erschaffen hat, anerkennen und sich mit dem Plündern begnügen werden.«
»Ihr müsst mehr tun, als auf ihre Einsicht hoffen!«, fauchte Cixi. »Sie sind in unser Land eingedrungen, und nun wollen sie die größten Schätze des Reiches rauben!«
Randall schaute in ihre zornigen Augen. Sie waren kalt und loderten dennoch vor Feindseligkeit. »Es gibt nichts, das ich tun kann«, sagte er.
Cixi ging mit heftigen Schritten zum Kamin, ihr Schatten streckte sich über den glänzenden Boden und die Wand an der Gartenseite. »Es muss einen Weg geben!«
»Was steht in dem Brief?«, fragte Randall. Cixi hatte ihn nicht aus der Hand gelegt.
Sie drehte sich nicht um, sondern hielt ihm das Schreiben mit ausgestrecktem Arm hin. »Der zweite Befehl, die Gefangenen hinzurichten. Er kam eine Viertelstunde, nachdem sie Peking verlassen hatten.« Sie wandte sich ihm zu. »Es scheint, dass Eure Taktik, sie freizulassen, ehe dieser Brief eintrifft, erfolgreich war. Doch ich fürchte, sie war dennoch ein Fehler. Wir haben nun kein Druckmittel mehr.«
»Wir hätten spätestens jetzt, da der Brief eingetroffen ist, kein Druckmittel mehr«, gab Randall zu bedenken. »Wären die Gefangenen exekutiert worden, hätten wir die Vergeltungsmaßnahmen der Invasoren unmöglich eindämmen können. Ihr Ziel wäre dann nicht der Sommerpalast, sondern die Verbotene Stadt gewesen.«
Cixi stand wie versteinert da und strahlte doch Erhabenheit aus. »Aber wir müssen doch etwas tun können«, sagte sie mit zitternder Stimme. Dann, als hätte sich ihre Entschlossenheit aufgelöst, fing sie leise an zu wimmern.
Randall legte die Arme um ihre Schultern. Er sah ihre
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