Zeitriss: Thriller (German Edition)
erstaunlicher Mann. Doch nun sah er sich einer viel schwierigeren Situation gegenüber. Wilson konnte nur hoffen, dass er sich nach besten Kräften an den Auftragstext hielt. Und er betete, dass Randall keinen Grund bekam, das Elixier selbst zu benutzen. Wenn doch, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er nicht zurückkam, denn nach Wilsons Ansicht war Unbesiegbarkeit viel zu verlockend, als dass jemand darauf verzichten würde.
46.
5 Kilometer nördlich von Peking, China
9. Oktober 1860
Ortszeit: 9.33 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 220
Randall hielt sich mit letzter Kraft im Sattel, während sein Pferd auf Peking zugaloppierte. Er delirierte vor Schmerzen und schrie mal auf Englisch, mal auf Chinesisch, Gott solle ihn doch holen, wenn er unbedingt wollte. Um zu verhindern, dass ihm die Därme aus der klaffenden Wunde quollen, hatte er sich ein Stück weiches Leder zwischen die Bauchmuskeln geklemmt.
Keine achthundert Meter hinter ihm ritten seine Verfolger. Zwanzig Briten und Franzosen waren durch das Südtor gesprengt, sobald er vom Wachturm aus entdeckt worden war. Doch sie holten nicht auf. Schon beim Ritt zum Sommerpalast hatten sie ihre Tiere überanstrengt, sodass diese jetzt erschöpft waren.
Randall hörte einen Schuss hinter sich, doch das Pfeifen einer vorbeifliegenden Kugel blieb aus. Es hatte zahlreiche Augenblicke gegeben, in denen er aus dem Sattel fallen wollte, so stark waren seine Schmerzen, doch irgendwie gelang es ihm durchzuhalten.
»Ihr hättet mich gar nicht treffen dürfen!«, delirierte er laut. »Ich bin der Aufseher, nicht irgendein hergelaufener Eunuch!« Er lachte hysterisch, bis er sich vor Schmerzen krümmte.
Sein Pferd trat fehl, und Randall kam kurz aus dem Gleichgewicht, konnte sich aber im Sattel halten. In dem Moment wurde der Hufschlag dumpfer; das Tier galoppierte über eine Holzbrücke, die einen der zahlreichen Entwässerungsgräben überquerte. Randall liefen die Tränen übers Gesicht. Zuerst wusste er gar nicht, warum er weinte. Dann kam ihm die Erinnerung an den Tag, als seine Mutter gestorben und er nicht bei ihr gewesen war. Für den Rest seines Lebens würde er beim Klingeln seines Handhelds an diesen traurigen Tag denken. Er hätte bei ihr sein sollen, doch das Schicksal und Gott hatten sich gegen ihn verbündet.
Seine Gedanken schwenkten zu Wilson.
Der Jesaja-Aufseher hatte sich so leicht überlisten lassen. Die Tredwells hielten alle Trümpfe in der Hand, wurde ihm klar. Vom ersten bis zum letzten. Es war eine Qual gewesen, mitanzusehen, wie Wilson versuchte, das Unbeeinflussbare zu beeinflussen. Bei bestimmt zwanzig Gelegenheiten hätte Randall ihm gern ins Ohr geflüstert, dass er über den Baum des Lebens Bescheid wusste. Doch das hatte er nicht tun dürfen.
»Wenn du jetzt hier wärst, würde ich’s tun!«, schrie er auf Chinesisch.
Plötzlich stieg die Wut in ihm hoch. Das war nicht anständig von mir! Wilson hatte bei seinem Jesaja-Auftrag so viel aufgegeben; er hatte eine bessere Behandlung verdient. Von ihnen allen.
»Jetzt würde ich’s dir verraten!«, schrie er wieder.
Randall lächelte mit blutigen Zähnen. Er dachte daran, wie Wilson das kleine Flugzeug durch den Sturm gesteuert und überhaupt keine Angst gehabt hatte. Zweifellos war er mit Dämonen in der Brust aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Seine Todessehnsucht war in der ganzen Firma bekannt. Er verhielt sich, als wollte er Gott herausfordern. Und genauso hatte Randall sich gefühlt, als er zum Sommerpalast geritten war. Er war sich unbesiegbar vorgekommen.
Und jetzt sieh mich an.
»Es tut mir leid, Wilson!«, schrie er.
Eine Kugel verfehlte ihn, und das Geräusch riss ihn aus dem Delirium. Er sah die dunklen Mauern Pekings vor sich aufragen; die Stadt war nah. Er drehte sich im Sattel um. Die Verfolger hatten aufgeholt. Ihre größeren Pferde kamen auf der Schieferstraße offenbar besser voran als sein kleines Schlachtpony. Ein zweiter Schuss pfiff dicht an ihm vorbei, und Randall bückte sich instinktiv. Doch sein Tier machte einen Satz, und er verlor den Halt und stieß mit der Wunde gegen den Sattelknauf.
Er wurde sofort bewusstlos.
Als er zu sich kam, lag er mit dem Gesicht am Boden. Der Staub legte sich gerade. Während ihm die Sicht immer wieder vor den Augen verschwamm, setzte er sich auf und sah sich suchend nach seinen Verfolgern um.
Keine fünfzig Schritte entfernt standen sie nebeneinander – Briten und Franzosen in roten und blauen Uniformjacken, auf die die
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