Zeitriss: Thriller (German Edition)
sich dicht über ihn und flüsterte: »Alles, was Ihr wollt.«
Seine Worte waren kaum zu hören. »Fragt nicht. Versprecht es.«
»Ich verspreche es.« Alle, die das Bett umstanden, staunten fasziniert, dass der Verwundete noch sprechen konnte.
»Findet die Zypresse … namens Knotenbaum. Sie steht beim Pavillon ewigen Sonnenscheins.«
»Ich kenne den Baum«, sagte Cixi. »Aber warum soll ich –«
Randall zuckte zusammen, ein heftiger Schauder durchlief seinen Körper. »Still«, murmelte er und biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. »Keine Fragen. Nehmt eine Schale, einen Hammer, einen dünnen Meißel.« Wieder zuckte er zusammen. »Stecht die Rinde an. Heraus läuft ein Saft …« Randall fasste den Ärmel ihres Kleides, sein furchtsamer Blick irrte durch den Raum, als wäre er von schrecklichen Geistern umgeben. »Lasst keinen Tropfen danebenfallen.« Er verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Zehn Tropfen, dann verschließt die Öffnung mit Teer.«
»Ich werde tun, worum Ihr bittet«, versprach Cixi. »Aber was geschieht mit dem Saft?«
Randall atmete schneller, verdrehte die Augen und zitterte heftig. »Einen Tropfen in meinen Mund. Einen Tropfen auf die Schusswunde.« Er stieß ein Wimmern aus. »Der Saft ist äußerst kostbar …«
Cixi wartete, ob er noch etwas sagen würde, doch er hatte wieder das Bewusstsein verloren. Einen Moment lang kniete sie da und wunderte sich über seinen letzten Wunsch. Doch sie wusste genug über diesen Mann, um zu glauben, dass der Saft wichtig war.
»Ihr Ärzte bleibt bei ihm«, befahl Cixi. »Wenn er diese Welt verlässt, ehe ich zurück bin, folgt Ihr ihm auf dem Fuße.« Sie wandte sich zu ihrem neuen Großeunuchen Li-Zhang um. »Du hast es gehört. Eine Schale, einen Meißel, einen Hammer. Wir treffen uns in fünf Minuten an der Zypresse! Bis ich komme, wird auch der Teer geschmolzen sein.«
»Gewiss, Edle Kaiserliche Gemahlin.«
Während Cixi durch die Gärten eilte, plagten sie Zweifel. Warum sollte der Blauäugige etwas so Sonderbares verlangen? Sollte der Baum etwa magische Kräfte besitzen? Sie wusste genau, welche Zypresse er meinte. Die Gärtner nannten sie Knotenbaum, weil sie einige ungewöhnliche Wucherungen am Stamm hatte. Cixi hätte das alte Gewächs längst fällen lassen, denn er war furchtbar hässlich. Doch es hieß, er sei der Lieblingsbaum des mächtigen Qianlong gewesen und davor schon des mächtigen Ming-Kaisers Yongle. Yongle war der Erbauer der Verbotenen Stadt gewesen; er hatte die Hauptstadt 1421 von Nanking nach Peking verlegt und die größte Palastfestung der Welt an eben jener Stelle errichtet, wo bis 1267 Kublai Khans Winterhauptstadt lag, Khanbalik. Es hieß, er habe die Pläne von einem Priester erhalten, der eigens dazu vom Himmel herabgestiegen sei.
Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, und Cixi bemerkte die Schatten der Bäume auf den makellosen Steinplatten. Der Knotenbaum stand bei der Halle Kaiserlichen Friedens, die auf der Mittelachse der Verbotenen Stadt stand. Li-Zhang rannte mit Trippelschritten an ihr vorbei, um vor ihr bei der Zypresse anzukommen. Er trug die Werkzeuge in einem Beutel, wo sie klimpernd aneinanderstießen.
Als Cixi die taoistische Pagode im Westviertel umrundete, sah sie den Knotenbaum vor den roten Wänden des Pavillons. Bei seinem Anblick bekam sie eine Gänsehaut. Zielstrebig lief sie darauf zu und betrachtete das alte Gewächs, den dicken, knotigen Stamm mit den Wucherungen, die Äste, die fast kein Grün mehr hervorbrachten. Der Baum war in der Tat hässlich, besonders verglichen mit den gesunden, jungen Zypressen und Pinien ringsherum, deren grüne Zweige in den Himmel zu streben schienen.
Was will er mit dem Saft des alten Baumes?
Li-Zhang stand schon mit Hammer und Meißel bereit. Ein anderer Eunuch hielt einen Kupfertopf mit Teer, während zwei weitere sich beeilten, auf den Steinplatten ein Feuer anzuzünden, um den Teer zu verflüssigen.
»Nun? Treib den Meißel in die Rinde!«, befahl sie ungeduldig.
Die Rinde erschien auf den ersten Blick steinhart. Li-Zhang setzte den Meißel an und holte mit dem Hammer aus, hielt jedoch inne, weil eine Windbö in den Garten fuhr. Sie wirbelte Laub und Sand in die Luft und blies beinahe das Feuer aus, das die Eunuchen gerade erst entfacht hatten.
Li-Zhang senkte die Werkzeuge, und der Wind legte sich. Dieser absonderliche Vorgang machte Cixi noch nachdenklicher.
»Stich den Baum an!«, verlangte sie.
Als Li-Zhang den Meißel in die
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