Zeitriss: Thriller (German Edition)
alte Rinde stieß, erhob sich der Wind erneut, als käme er aus allen Richtungen gleichzeitig. Der Eunuch wollte den Meißel herausziehen, aber Cixi befahl umso lauter: »Stich den Baum an!«
Li-Zhang schlug mit dem Hammer zu. Der Wind wurde stürmisch.
»Weiter!«, verlangte Cixi, der die Haare um das Gesicht wehten.
Während Li-Zhang den Meißel weiter in das harte Holz trieb, ballten sich wie aus dem Nichts dunkle Wolken zusammen und verdeckten die Sonne. Cixi schaute um sich; die Bäume bogen sich in dem plötzlichen Sturm. Gelbe Dachziegel lösten sich vom Pavillon und zerschellten neben ihr am Boden. Laub und Sand wurden hoch in den düsteren Himmel aufgewirbelt. Cixi war sprachlos angesichts des Wetters und sah ihren Eunuchen zu, wie sie vergeblich versuchten, das Feuer wieder anzufachen.
Li-Zhang schlug so fest er konnte mit dem Hammer zu, und endlich drang die Meißelspitze durch die Rinde ins Holz. Mit großer Mühe zog er den Meißel wieder heraus und trat zurück. Der Wind legte sich augenblicklich, das aufgewirbelte Laub fiel zu Boden.
»Reich mir die Schale«, sagte Cixi, stellte sich auf Zehenspitzen und spähte in das kleine dunkle Loch. Staunend sah sie einen goldenen Saft langsam aus der Vertiefung treten. Sie hielt die weiße Porzellanschale unter die Wunde und fing die goldenen Tropfen, die durch eine Rindenfurche herabliefen, auf.
Als sie zehn gezählt hatte, zeigte sie auf Li-Zhang. »Drücke den Finger auf das Loch, damit kein Tropfen verloren geht. Ihr da schmelzt den Teer, und verschließt damit das Loch.«
Sie deckte die Schale mit der Hand ab, damit kein Schmutz hineinfiel, und rannte so schnell sie konnte zurück. Der Baum war magisch, dessen war sie sicher.
Auch der sonst so saubere Hof vor ihren Wohnräumen lag nun voller Blätter und Piniennadeln, die der stürmische Wind herübergetragen hatte. Der Himmel hellte sich bereits wieder auf, die dunklen Wolken, die wie aus dem Nichts gekommen waren, verschwanden.
Als sie durch die rote Tür getreten war, schlug sie die Etikette in den Wind und rannte zum Bett des Sterbenden, um ihm den Trank zu verabreichen.
»Ist er am Leben?«, fragte sie.
Gengjun hielt Randalls Handgelenk und maß den Puls. »Er entgleitet jeden Augenblick«, antwortete er besorgt. Der Blauäugige war bleich wie Alabaster, sein Gesicht ausdruckslos, die Atmung kaum noch wahrnehmbar.
»Geht zur Seite«, sagte Cixi energisch. »Legt die Bauchwunde bloß, sodass ich sie sehen kann.«
Der Arzt schlug den blutigen Verband auf. Cixi kniete sich hin, nahm die Hand von der Porzellanschale und sah zum ersten Mal hinein. Die kleine Menge goldener Flüssigkeit kreiste um sich selbst, das war im Morgenlicht klar zu sehen. Cixis Herz schlug schneller – der Trank war wirklich magisch. Sie barg die Schale am Körper, damit kein anderer es sah.
Gengjun ging auf die andere Seite des Bettes und prüfte noch einmal den Puls. »Sein Herz hat aufgehört zu schlagen«, stellte er unglücklich fest.
Cixi fuhr augenblicklich auf. »Alle hinaus, außer meinen Ärzten!«, schrie sie. »Sofort!«
Innerhalb von Sekunden war die Schar Eunuchen hinausgehuscht. Cixi hielt die Schale an Randalls Lippen, neigte sie behutsam und wartete, bis der träge Saft zum Rand geflossen war.
»Ich fürchte, der Mann ist tot«, krächzte Gengjun leise. »Wir können nichts mehr tun.«
Cixi reagierte nicht darauf, sondern hielt konzentriert die Schale schräg, um einen einzelnen Tropfen in Randalls Mund fließen zu lassen. Er bildete sich am Rand, rutschte über die Kante, löste sich und landete auf der schwarz gewordenen Zunge. Dann hielt Cixi die Schale über die Bauchwunde und riss das verkrustete Stück Leder heraus. Langsam löste sich ein Tropfen, der leise zischend in der Wunde landete.
Gengjun setzte sich auf die Unterschenkel und senkte den Kopf. »Nichts kann diesen Mann retten«, sagte er bedauernd. »Schon gar nicht das Harz einer Zypresse.«
Cixi setzte sich ebenfalls auf die Waden, stellte die Schale neben sich und deckte sie mit einem weißen Tuch ab. Dann betrachtete sie den Mann auf dem Bett. Er regte sich nicht im Mindesten und atmete auch nicht mehr. Offenbar war sie mit dem Trank zu spät gekommen.
Sekunden verstrichen.
Cixi spielte nervös mit ihrer Saphirkette. Der Tod des Blauäugigen würde alles zunichtemachen. Die Augen auf sein blutiges Profil gerichtet, wartete sie geduldig auf ein Wunder. Aber nichts geschah.
Draußen im Hof sah sie die Palastdiener eifrig das
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