Zeitriss: Thriller (German Edition)
Sonne schien. Ihre Pferde ließen erschöpft die Köpfe hängen, und weißer Schaum tropfte ihnen vom Maul.
»Erschießt mich«, brummte Randall kaum hörbar. Mühsam hob er ein Stück die Arme hoch. »Erschießt mich.« Doch zu seiner Verblüffung wendeten die Soldaten ihre Pferde und ritten in einer Staubwolke davon.
Randall drehte den Kopf. Hinter ihm standen Tataren aufgereiht, Hunderte Reiter und Fußsoldaten, die vor der Stadtmauer ausgeschwärmt waren, sogar leichte Artillerie hatten sie mitgebracht. Es war wie ein lebhafter Traum; Fahnen, Jacken, Hemden aller Farben, darüber Hunderte schwarz-gelber Tigerflaggen, die im kalten sibirischen Wind wehten.
Eine Gruppe Reiter preschte heran, doch Randall konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Schwer atmend sackte er zur Seite und konnte nur noch verwundert zu den Wolkenfetzen aufschauen, die über den chinesischen Himmel zogen.
47.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
9. Oktober 1860
Ortszeit: 10.47 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 220
Voller Angst schritt Cixi durch die offenen Türen in ihren privaten Hof. Wenn der Blauäugige stürbe, wäre es mit ihren Plänen vorbei. Nach dem Hinscheiden ihres Gemahls würde Su Shun Regent werden und ihr Sohn niemals auf den Thron steigen. Ebenso gut könnte sie gleich mit Randall Chen sterben.
Sie holte tief Luft und befahl sich, nicht fatalistisch zu sein. Schließlich tat sie, was sie konnte, trug sogar ein schwarzes Chang-Pao-Kleid mit einem Saphirhalsband als Glücksbringer. Ihre besten Ärzte standen bereit, um Randall Chen durchzubringen. Er würde die beste Wundversorgung erhalten, und Akupunktur und Kräuter würden seine Schmerzen lindern und die Heilung fördern.
Plötzlich wurde das Hoftor aufgestoßen. Zwanzig Eunuchen eilten in den großen Hof. Beim Anblick ihrer besorgten Gesichter setzte Cixis Herz für einen Schlag aus. Mit vereinten Kräften und kurzen hastigen Schritten trugen sie den Verwundeten auf die offene Tür des Krankenzimmers zu, das in Cixis Vortragsraum behelfsmäßig eingerichtet worden war.
»Holt die Ärzte!«, befahl sie energisch und lief hinein, um sich den Zustand des Blauäugigen selbst anzusehen. Die Eunuchen setzten die Trage behutsam neben das Bett, und zwanzig Paar Hände hoben den Bewusstlosen auf das weiße Baumwolllaken. »Geht alle hinaus!«, befahl sie, bevor sie zu ihm hinsah.
Als die Gruppe auseinanderging, traf es Cixi wie ein Schlag.
Sie hatte noch nie eine so entsetzliche Wunde gesehen. Sie blickte auf den aufgerissenen, blutigen Bauch eines Mannes, der sicher nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen vor lauter Blut. Cixi wollte weinen, doch sie atmete scharf ein, um die Maske der Stärke zu behalten, und sank auf die Knie, halb aus Kraftlosigkeit, halb aus Reue.
»Was haben sie mit Euch gemacht?«, flüsterte sie.
Randalls Augen waren halb geöffnet, seine Pupillen aber nicht zu sehen.
»Ich habe Euch Vorsicht geboten«, flüsterte sie weiter. Sie wollte ihm über die Stirn streichen, doch es gab keine Stelle, die nicht zerschnitten oder zerkratzt war. Genauso sahen auch seine Hände und Arme aus, und die Uniform war überall zerrissen.
Drei Ärzte mit der für sie typischen Samtkappe drängten sich durch die draußen stehenden Diener und Wachen und eilten an das Bett des Patienten. Einer kniete sich hin und nahm die Wunde unterhalb des Brustkorbs in Augenschein, während der zweite einen Finger an Randalls Handgelenk legte und den Puls fühlte. Der dritte zog Randall die Stiefel aus und drückte die Finger tief in die Mitte seiner Fußsohlen, um seine Meridiane freizumachen.
»Edle Kaiserliche Gemahlin«, sagte Gengjun mit heiserer Stimme. »Sein Puls ist sehr schwach.«
Cixi bedachte ihn mit einem sengenden Blick. »Euer Leben hängt an seinem.«
Gengjun riss erschrocken die Augen auf. Noch einmal legte er den Finger an Randalls blutiges Handgelenk. »Er ist schwer verwundet, Edle Kaiserliche Gemahlin. Milz und Därme übel zugerichtet. Er hat viel Blut verloren, und damit viel von seinem Qi. Ich weiß, das ist nicht, was Ihr hören wollt, doch hier können wir nichts weiter tun, als ihm die Reise zu seinen Ahnen möglichst angenehm zu machen.«
Cixi wollte ihm schon zehn Peitschenhiebe versetzen lassen, als der Verletzte leise stöhnte und sie ablenkte. Er schlug die blauen Augen auf und suchte sie unter den Gesichtern.
»Tut, was ich sage«, verlangte er leise mit klebrigen Lippen.
Cixi beugte
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