Zeitriss: Thriller (German Edition)
Ruhe. Keiner wollte dem anderen das Vergnügen gönnen, ihn bei einer Schwäche zu ertappen. Stattdessen betrachteten sie einander wie zwei Katzen in der Nacht, die darauf warten, dass die andere sich zuerst bewegt.
Cixi war die einzige Frau, die jemals bei diesem Rat sitzen durfte, und wenngleich ihr keiner offenen Groll entgegenbrachte, so war ihr doch klar, dass alle vor ihr auf der Hut waren. Als Frau war sie ihnen unter keinen Umständen gleichgestellt, aber es machte sie in gewisser Weise unangreifbar, dass sie die Lieblingsfrau des Kaisers und die Mutter Tung Chis war, seines einzigen Sohnes, der ihm auf den Thron folgen würde und somit der nächste Himmelssohn war. Allerdings brachte ihr das noch nicht die Macht und den Respekt, die sie so dringend begehrte.
Beim Klang ferner Trommeln erhoben sich die Wartenden von ihren Plätzen. Der gleichmäßige Schlag bedeutete, dass der Sohn des Himmels unterwegs war. Durch die roten Türen, die hinaus auf den Hof gingen, war bereits sein goldener Palankin zu sehen, der von sechzehn Eunuchen getragen wurde. An der weißen Marmorrampe, in die ein Drache gemeißelt war, blieben sie stehen. Die Vorhänge teilten sich, und zwei große Eunuchen halfen Hsien Feng behutsam aus dem Polstersitz. In den vergangenen vier Monaten war er schrecklich dünn geworden, und man erzählte sich, er sei durch die nächtlichen Begegnungen mit Cixi und den anderen Konkubinen, die sie in sein Schlafzimmer brachte, zunehmend erschöpft. Die Wahrheit war, dass der Neunundzwanzigjährige an einer Lebererkrankung litt, die bald sein Leben fordern würde.
Hsien Feng war zu keiner Zeit seiner Regierung als besonders klug oder weise angesehen worden, nur als kräftiger, geschickter Reiter war er bekannt gewesen. Nun jedoch hatten ihn sämtliche Kräfte verlassen, er war müde und teilnahmslos – und verließ sich mehr und mehr auf Cixi, die zum Vorteil des Reiches eine starke Haltung und einen listigen Verstand beweisen sollte. Dass er einer Frau das Befehlen überließ, wurde von vielen als Feigheit und als Mal der Schande für die ruhmreiche Qing-Dynastie betrachtet.
Hsien Feng ließ sich die Marmorrampe hinaufgeleiten. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Nachdem er zwei Mal gestolpert war, wurde er von beiden Seiten gestützt, bis er auf dem ebenen Palastboden wieder sicheren Tritt gewann. Inzwischen lagen alle Eunuchen entlang der Wände bäuchlings auf dem Boden und streckten die Arme ehrerbietig dem Kaiser entgegen. Die Mitglieder des Kriegsrats beugten den Kopf, während er langsam seinem Thron zustrebte, die mittlere Treppe hinaufstieg und sich auf sein Kissen setzte. Dann erst verstummten die Trommeln.
Niemand der Anwesenden durfte ihn ansehen, solange er nicht ganz auf seinem Thron saß; darauf bestand er. Dennoch konnte Cixi beobachten, wie Su Shun, der alte Rabe, den Gang des kränklichen Herrschers durch die Halle verfolgte. Sie wusste, dass er Kraft aus dieser Schwäche zog. Umso wichtiger war es, dass sie heute großes Geschick an den Tag legte, um ihre eigene Macht nicht zu schwächen. Denn sollte Hsien Feng sterben, solange sein Sohn noch ein Kind war, würden ihre zahlreichen Feinde sich auf sie stürzen und sie vernichten. Darum kümmerte sie sich sehr um die Gesundheit des Kaisers und ließ täglich ihre besten Ärzte für seine Behandlung sorgen, um sein Chi zu erhalten.
Er sah blass und ausgemergelt aus, wie er auf dem goldenen Thron saß. Zwei Eunuchen fächelten ihm kühle Luft zu. Auf den großen Fächern prangte der fünfklauige Drache, ebenso auf seinem fließenden goldenen Gewand auf Brust, Schultern und Rücken, damit das mystische Tier ihn von allen Seiten beschützte. Auf dem Kopf trug er eine Samtmütze, die sein schütter gewordenes Haar verbarg. Die Strähnen seines langen Bartes, der noch nie geschnitten worden war, hingen ihm auf die Brust herab. Der Gang von der Sänfte bis zum Thron hatte ihn derart angestrengt, dass er schwitzte. »Fahrt fort«, befahl er und drehte den Kopf zu Cixi. Der Anblick ihres Gesichts gab ihm sichtlich Kraft.
Mu Yin stand von seinem Platz auf und breitete die Arme aus. »Die Sitzung des Kriegsrats ist nunmehr eröffnet«, sagte er förmlich und legte eine Pause ein, die ewig zu dauern schien. »Ich habe ernste Neuigkeiten, werte Ratsmitglieder, sehr ernste Neuigkeiten. Die Festung Wei ist von den roten Teufeln eingenommen worden. Somit besitzen die Briten und Franzosen das Kleinod unserer Verteidigungsanlagen an der
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