Zeitriss: Thriller (German Edition)

sah er zwei Gestalten, eine große und eine kleinere, in der Dunkelheit auf dem Grasplatz warten. Le Dan verbrachte seine Zeit nicht gern in klimatisierten Räumen und hatte vorgeschlagen, sich bei Sonnenaufgang am höchsten Punkt des Firmengeländes zu treffen, um miteinander zu reden, zu trainieren und zu meditieren.
    Mit jedem Schritt hoben sich die beiden Männer deutlicher aus der Dunkelheit ab. Sie trugen beide einen weißen Trainingsanzug und Sandalen. Schon auf den ersten Blick war Le Dan ein außergewöhnlicher Mann – seine glatte Haut war makellos, seine Gesichtszüge ebenmäßig und ausgeglichen. Wilson staunte innerlich, dass ein Shaolin-Meister vor ihm stand, dessen Lehren und Lebensführung in direkter Linie auf Bodhidharma zurückging und somit fünfzehnhundert Jahre alt waren. Le Dan lächelte nicht, und dennoch fühlte Wilson sich willkommen. Den Mann umgab eine Ruhe, die schwer zu beschreiben, aber klar zu spüren war.
    »Wilson Dowling«, sagte Randall, »ich möchte Ihnen Meister Le Dan vorstellen.«
    Le Dan nickte grüßend, ohne Wilson auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Le Dan mit wohlklingender Stimme.
    »Ganz meinerseits«, erwiderte Wilson.
    »Randall hat mir erzählt, dass Sie ein guter Mann sind«, sagte Le Dan. »Und ich sehe Ihnen an, dass Sie schon vieles erlebt haben.«
    Wilson lächelte. »Von Ihnen hätte ich kein Kompliment erwartet, Meister Le Dan.«
    »Verwechseln Sie nicht Tatsache und Kompliment«, erwiderte der alte Mann. »Ich sehe bei Ihnen etwas, was mir neu ist. Sobald ich es begriffen habe, werde ich Ihnen sagen, was es ist.« Er forschte in Wilsons Gesicht. »Ich verstehe, dass das Vorhaben geheim bleiben muss. Fürchten Sie also nicht, dass ich es aufdecken möchte.« Er schmunzelte. »Ihre Miene verrät mir, dass Sie überlegen, ob Randall mir etwas verraten hat. Ich versichere Ihnen, er hat sich an die Abmachung gehalten. Bevor ich herkam, hat er mir klar gesagt, dass er mir den Zweck nicht enthüllen darf. Sie verstehen also, dass ich von meinem Schüler sehr enttäuscht wäre, wenn er die Abmachung gebrochen hätte.«
    »Randall kann ich trauen«, bekräftigte Wilson. »Daran habe ich nie gezweifelt.«
    Der Blick des alten Mannes änderte sich ein klein wenig, als ob er vermutete, dass Wilson sich doch nicht so sicher war. »Randall sagt, Sie möchten heute Morgen an unseren Übungen teilnehmen.«
    »Es wäre mir eine Ehre, Meister«, antwortete Wilson.
    »So soll es sein.« Der alte Mann schaute zum heller werdenden Himmel. Ein Vogel stieg zwitschernd aus den Bäumen auf und flog nach Westen. »Die Sonne wird uns bald mit einem neuen Tag beehren.« Le Dan deutete auf die drei orangefarbenen Matten, die einander zugewandt im kurzen Gras lagen. »Setzen wir uns.«
    Randall wirkte vollkommen gesammelt, als er sich im Lotossitz auf der gepolsterten Matte niederließ. Wilson setzte sich in derselben Haltung, mit geradem Rücken, die rechte Faust in die offene Handfläche gedrückt.
    So saßen sie alle drei da. Le Dan tat einige tiefe Atemzüge, Randall und Wilson machten es ihm nach. Wilson nutzte die Gelegenheit, um den Shaolin-Meister zu mustern. Seine Haut hatte kaum Falten, die Muskeln waren gespannt und geschmeidig, der Kopf am Scheitel kahl, die Haare an den Seiten weiß und recht lang, die hellbraunen Augen blickten gelassen. Der alte Mann sah nicht besonders gefährlich aus, doch für erfahren hielt man ihn sofort.
    »Um Harmonie zu erlangen«, begann er mit sanfter, aber tieferer Stimme, »müssen wir den fünf Grundsätzen des Lebens gehorchen. Der erste heißt Tao, das bedeutet Weg. Die Richtung deines Lebens, dein wahrer Zweck muss bestimmt werden – es darf keine Verwirrung über die Aufgabe geben. Der zweite heißt Tien, das bedeutet Himmel. Das Ziel deiner Handlungen muss leicht zu unterscheiden und Erfolg leicht zu messen sein. Der dritte heißt Dee, das bedeutet Erde. Alle Dinge müssen harmonieren, sonst geraten sie in Widerspruch zur Erde und ihren Kräften. Der vierte heißt Gian, das bedeutet Führung. Ohne sie kann kein Erfolg erlangt werden. Und der fünfte heißt Far, das bedeutet Recht. Um in Harmonie zu sein, müssen wir jederzeit mit Achtung und Würde handeln.«
    Er atmete tief durch. »Sprecht mir nach. Tao.«
    Randall und Wilson taten es und wiederholten auch die folgenden Begriffe. »Tien. Dee. Gian. Far.«
    »Das sind die fünf Grundsätze: Tao, Tien, Dee, Gian, Far«, sagte Le