Zeitriss: Thriller (German Edition)
Holzpuppe ausführen würden.
Nach den ersten Posen begann Le Dan zu sprechen. »Sammle alle Kraft.« Er drehte sich langsam mit geballter Faust zur Seite. »Dann dreh dich, versuche, dir vorzustellen, dass du schnell und kraftvoll bist wie ein heulender Sturm, der die Sterne vom Himmel reißen kann.« Er öffnete langsam die Hände und breitete die Arme aus. »Dein Griff sei wie Wolken, die den Mond umfangen.« Er glitt in die nächste Pose. »Steh fest auf den Beinen wie ein Berg. Das ist der Pferdestand, die grundlegende Haltung beim Kung-Fu.«
Nach dreißig Posen und ihren aufschlussreichen Beschreibungen wurden die Bewegungen komplizierter und Le Dans Stimme leiser. Die Biegsamkeit und Stärke, die er und Randall bewiesen, hatte Wilson noch nie an jemandem gesehen. Er wusste, dass er ihnen nicht mehr folgen konnte, und trat zurück. Ein paar Minuten lang sah er ihnen noch beim Training zu. Ganz offensichtlich war Randall ein Meister der Kampfkunst. Er zwang seinen Körper in einen langsamen Handstand, ging dann in den Kopfstand über und nahm die Hände vom Boden weg – wie Le Dan es vormachte. Sie standen tatsächlich ungestützt auf dem Kopf.
Wilson entfernte sich still. Jetzt war ihm klar, warum man Randall zum Esra-Aufseher bestimmt hatte. Er war geistig stabil, von einem Shaolin-Meister geschult, hatte einen perfekten Körper, und seine Kampfkunst war enorm. Zog man dazu seine chinesische Abstammung in Betracht, war die Entscheidung leicht. Blieb nur die Frage, ob er außer der Esra-Mission auch noch die dreiste Forderung erfüllen konnte, die GM ihm bald aufladen würde.
Wilson drehte sich noch einmal um, als Randall und Le Dan sich vollkommen synchron aufrichteten, die Beine zum Spagat spreizten und ihr ganzes Gewicht auf die Fingerspitzen stellten. Randall musste sich sein Leben lang in Disziplin geübt haben. Wilson seufzte unwillkürlich und dachte an seine eigene Kindheit. Bis zu seiner Jesaja-Mission hatte er sich nie einer besonderen Sache verpflichtet. Und ohne seine Omega-Programmierung hätte er auch die nicht bewältigt.
26.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
25. September 1860
Ortszeit: 16.45 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 206
»Ihr hättet den Blauäugigen nicht herbringen sollen«, sagte Prinz Kung leise. »Wenn der Sohn des Himmels davon erfährt, wird Euch das als Verrat ausgelegt werden.«
»Der mächtige Hsien Feng ahnt nicht einmal, wer er ist«, entgegnete Cixi zuversichtlich. »Der Sohn des Himmels wird mit seinem Hofstaat in Jehol aufgehalten – unwissend und abgeschieden von allem, was hier vorgeht.« Sie warf ihre Haare über die rechte Schulter. »Darum muss ich das Risiko auf mich nehmen. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Der Blauäugige ist gewiss die Ursache für die bisherigen Siege der roten Teufel.« Sie ging einen Schritt rückwärts und sah durch die Säulenhalle, wo die Sonne durch die Fenster schien. »Ich brauche ihn aus einem bestimmten Grund in meiner Nähe, mein Bruder.«
»Aber wenn wir ertappt werden?«, flüsterte Prinz Kung nervös.
Cixi betrachtete den jungen Prinzen. Sein längliches Gesicht war weich, seine Haut dunkler als die seines Bruders. Er hatte den kahlen Scheitel und den langen Zopf der Mandschu und trug ein schwarzes kaiserliches Gewand mit einer schwarzen Perlenkette. Sie sah die Angst in seinen Augen und wollte ihn am liebsten ohrfeigen, ihn zum Starksein zwingen, so sehr frustrierte sie seine Schwäche. Doch sie beherrschte sich vollkommen.
»Ihr habt recht, vorsichtig zu sein«, sagte sie sanft. »Doch es gibt Zeiten, da man gegen die Regeln verstoßen muss. Das Überleben der Qing-Dynastie hängt von unserer Entscheidung ab – und vor allem von Eurer Unterstützung. Die roten Teufel stehen mit ihrem Heer bei Tongzhou und bereiten einen Angriff auf Peking vor. Seht Euch um. Wer wird uns vor dem Einmarsch schützen?« Sie zeigte auf die vier Eunuchen, die an der Wand standen. »Diese?«
»Der Blauäugige sollte nicht in der Verbotenen Stadt sein«, wiederholte Prinz Kung ängstlich.
»Er wird als mein Gast in den Westlichen Palästen bleiben.«
»Aber nach Einbruch der Dunkelheit darf sich kein Mann außer dem Sohn des Himmels dort aufhalten«, flüsterte er.
»Nur dort kann seine Anwesenheit geheim gehalten werden«, erklärte Cixi. »Er wurde in die Liste der Eunuchenkrieger aufgenommen. Und er wurde zu meinem Leibwächter ernannt, sein Quartier grenzt an diesen Palast.«
»Das ist zu gefährlich«,
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