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Zeitschiffe

Zeitschiffe

Titel: Zeitschiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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aber seine Konturen waren verschwommen, als ob es sich in ständiger insektenhafter Wallung befinden würde.
    »Bist du lebendig?« wollte ich diese häßliche Vision fragen. Aber mein Hals war wie zugeschnürt, meine Stimme eingefroren, und ich konnte keine Fragen mehr stellen.
    Schwärze umfing mich, und die Kälte fiel endlich von mir ab.
    F Ü N F T E S B U C H
    WEISSE ERDE

Gefangen
    Ich öffnete die Augen, oder vielmehr hatte ich den Eindruck, daß meine Augenlider hochgezogen oder vielleicht auch abgeschnitten wurden. Meine Sicht war trü-
    be, die Wahrnehmung der Welt gebrochen; ich fragte mich, ob meine Augäpfel
    vereist wären – vielleicht sogar ganz gefroren. Ich starrte zu einem willkürlichen Punkt am dunklen, sternenlosen Himmel; an der Peripherie des Blickfeldes sah ich einen Hauch von Grün – vielleicht der Mond? – aber ich konnte mich nicht bewegen, um es genau festzustellen.
    Ich atmete nicht. Im nachhinein sagt sich das leicht, aber es ist schwer, die Panik zu vermitteln, die ich bei der Feststellung dieses Sachverhalts spürte! Ich fühlte mich, als ob ich mich außerhalb meines Körpers befinden würde; es fehlte jegliche mechanische Aktivität – die Bewegung des Atems und das Klopfen des Herzens,
    die millionenfachen winzigen Zuckungen von Muskeln und Membranen – die alle, ohne daß sie überhaupt wahrgenommen werden, das Korsett unseres menschlichen Lebens bilden. Es war, als ob mein ganzes Sein, meine ganze Identität, sich in diesem offenen, starrenden, fixierten Blick verdichtet hätte.
    Ich dachte mir, daß ich eigentlich hätte Furcht verspüren und wie ein Ertrinkender nach Luft schnappen müssen. Aber kein derartiger Drang überkam mich: ich fühlte mich nur schläfrig, kaum meiner Sinne mächtig, als ob ich narkotisiert worden wäre.
    Ich glaube, daß es dieses Fehlen des Schreckens war, das mich davon überzeugte, tot zu sein.
    Jetzt bewegte sich ein Schatten über mir und verstellte mir die Sicht auf den leeren Himmel. Es war annähernd pyramidenförmig, mit unscharfen Kanten; es war
    wie ein in Wolken gehüllter Berg, der mich überragte.
    Natürlich erkannte ich diese Erscheinung wieder: es war das Ding, das vor mir gestanden hatte, als wir exponiert auf dem Eis lagen. Jetzt kam diese Maschine –
    das mußte sie in meinen Augen nämlich sein – auf mich zu. Sie bewegte sich auf eine seltsam fließende Art; wenn man sich vorstellt, wie die Sandkörner beim Kip-pen einer Sanduhr strahlförmig rieseln, kann man den Effekt ungefähr erahnen.
    Am Rande meines Blickfeldes sah ich, wie die verschwommene Kante der Maschine über meinen Bauch und die Brust glitt. Dann spürte ich, wie ein anhaltendes Prickeln – winzige Stiche – durch Brust und Bauch verlief.
    Die Körperreaktionen hatten also wieder eingesetzt! – und zwar so blitzartig wie ein Gewehrschuß. Ich spürte ein leichtes Kratzen auf der Brust, als ob die Kleidung dort aufgeschnitten und abgestreift werden würde. Und jetzt wurde das Prickeln intensiver; es war, als ob sich winzige, insektenhafte Objekte in mein Fleisch bohrten und mich kontaminierten. Ich spürte Schmerzen – eine Million winziger Nadeln, die in die Eingeweide stachen.
    Soviel zum Tod – soviel zur Körperlosigkeit! Und mit der Erkenntnis meiner
    fortdauernden Existenz kam auch die Angst zurück – sofort, und in einer großen Flut von chemischen Substanzen, die mich mit großer Intensität durchspülten.
    Nun kroch der dräuende Schatten der montanen Kreatur, verwaschen und ominös, weiter über meinen Körper in Richtung des Kopfes. Gleich würde ich erstik-ken! Ich wollte schreien – aber ich konnte Mund, Lippen und Hals nicht spüren.
    Noch nie hatte ich mich auf meinen Reisen so hilflos wie in diesem Augenblick gefühlt.
    Im letzten Moment spürte ich, wie etwas über meine Hand glitt. Ich fühlte eine geisterhafte Kälte und einen Haarwuschel: es war Nebogipfels Hand, die meine hielt. Ich fragte mich, ob er hier neben mir lag, sogar jetzt, wo diese gespenstische Vivisektion durchgeführt wurde. Ich wollte seine Finger umschließen, konnte aber keinen Muskel bewegen.
    Und jetzt erreichte der pyramidenförmige Schatten mein Gesicht, und der
    freundliche Ausschnitt des Himmels wurde verdeckt. Ich fühlte, wie sich Nadeln in Hals, Kinn, Wangen und Stirn bohrten. Da war ein Prickeln – ein unerträgliches Jucken – auf der Oberfläche meiner exponierten Augen. Ich wollte den Blick abwenden und die Augen schließen, aber es gelang mir

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