Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
Automatisch schauen alle zu ihm, und er starrt die Frau und ihren Mann mit einer Härte an, die ich ihm mit seinem ständigen Herumgealbere nie zugetraut hätte. Das Paar wendet den Blick sofort ab.
James schaut von seinem Handy hoch. »Alles okay mit dir? Sie bringen bestimmt gleich Wasser an den Tisch.«
»Ach was, alles bestens.«
Finn zwinkert mir zu, und ich drehe mich weg.
Das Essen wird von Bedienungen in Frack und weißen Handschuhen serviert, und die Reden beginnen. Ich weiß, dass James jedes Wort aufsaugt, aber nach zwanzig Minuten klingt Senator Graines für mich wie einer der Erwachsenen aus einem Charlie-Brown-Cartoon: mwa mwa mwa mwa. Zwischen zwei verstohlenen Blicken auf James – James in einem Smoking – spiele ich mit meinem Lachs herum und schiebe das Gemüse auf meinem Teller zu ordentlichen kleinen Haufen zusammen. Nach einer Weile gestalte ich eine ganze Landschaft daraus: ein grünes Brokkoli-Tal am Fuße eines Lachs-Berges, der sich unter bauschigen Wolken aus Basmatireis erhebt.
Ich erwische Finn dabei, wie er mich beobachtet; auf seinem Gesicht leuchtet ein spöttischer Ausdruck. »Wie alt bist du?«, scheint er fragen zu wollen. »Vier?« Ich mache meine Landschaft mit der Gabel dem Erdboden gleich und lehne den Kopf an James’ Schulter.
»Langweilig?«, fragt er.
»Ein bisschen«, flüstere ich.
»Na ja, wenigstens siehst du wunderschön aus.«
Ich vergesse Finn vollkommen. Ich vergesse zu atmen . Plötzlich wirkt die Vorstellung, James aus seinen Klamotten zu schälen, gar nicht mehr so lächerlich.
»Hey«, sage ich leise, und ich höre, wie die Worte aus meinem Mund kommen, als wäre ich gar nicht in meinem Körper. »Willst du noch mit zu mir nach Hause kommen, wenn das hier vorbei ist? Meine Eltern sind heute Morgen nach Vail gefahren.«
James lässt den Sprecher auf dem Podium nicht aus den Augen. »Ja, klar.«
Er ist oft bei mir zuhause, wenn meine Eltern nicht da sind – was ständig der Fall ist –, daher kapiert er es nicht. Aber ich kann es nicht sagen, vor allem nicht hier, wo Finn Abbott direkt neben uns sitzt. Stattdessen lege ich ihm zögerlich die Hand aufs Bein.
Näher an seinem Knie, und es wäre bloß freundschaftlich. Wenn ich ihn kurz tätscheln würde, wäre es immer noch freundschaftlich. Doch meine Hand liegt ein wenig zu hoch auf seinem Oberschenkel, und ich stelle mir vor, ich wäre Sophie, als ich ihn leicht drücke. Von außen mag die Aktion selbstbewusst wirken, aber in meiner Brust ist es so eng, dass ich mich ernsthaft frage, ob ich gerade einen Herzanfall kriege.
James heftet den Blick auf mich, und ich sehe, wie sich die Rädchen in seinem Kopf in Gang setzen.
»Hey«, sagt Finn. »Nate ist dran.«
Ich ziehe ruckartig meine Hand weg, und James dreht den Kopf wieder Richtung Bühne. Ich sterbe etwa sechsundvierzig verschiedene Tode, während ich diese Sache der Liste mit den Gründen, warum ich Finn Abbott hasse, hinzufüge. Ich balle meine zitternden Hände unter dem Tischtuch zu Fäusten.
Nate ist der vorletzte Redner, direkt vor dem Vizepräsidenten. Bürgermeister McCreedy, der ein alter Freund meiner Mom ist und auf alle unsere Partys kommt, kündigt ihn an. Nate sei ein »aufgehender Stern« der Demokratischen Partei, kürzlich zum Fraktionsvorsitzenden gewählt und auf dem Weg in die Führungsriege des Heimatschutzausschusses.
Außerdem ist er ein Shaw .
»Glaubst du, dass Nate eines Tages für die Präsidentschaft kandidieren wird?«, frage ich, während die Menge applaudiert. Dabei versuche ich normal zu klingen. Tamsin oder Sophie wären nicht wortkarg oder zittrig, also werde ich das auch nicht sein. Ich bin ganz locker.
James zuckt die Achseln. »Darüber hat er noch nie mit mir gesprochen.«
»Das wird er«, sagt Finn. »Nicht bei der nächsten Wahl, aber vielleicht danach. Wenn er Senator oder Gouverneur gewesen ist.«
»Was macht dich da so sicher?«, frage ich.
»Er hat alles, was es dazu braucht. Die Familie, die Mittel, das perfekte Präsidentenhaar. Er wäre verrückt, wenn er nicht kandidieren würde.«
James lacht. Er überhört den spöttischen Unterton in Finns Worten, der mir jedoch nicht entgeht.
»Ich glaube, dass er einen großartigen Präsidenten abgeben würde. Er ist klug und mitfühlend und taff. Außerdem« – ich werfe Finn einen vernichtenden Blick zu – »hat er ja tolle Haare .«
»Du solltest die Bedeutung eines guten Haarschnitts nicht unterschätzen, M. Er sagt wirklich …«
Ich falle
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