Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
»Was brauchst du?«
Mrs. Abbott, über ihre Gehilfe gebeugt und in einem Jogginganzug, der um ihre dünne Gestalt schlackert, kommt in die Küche. »Ich hole mir nur einen Saft.«
»Ich bringe dir ein Glas. Geh zurück ins Bett.«
Ich blicke zu James und sehe, dass er genauso überrascht über Mrs. Abbotts Verfassung ist, wie ich es war.
»Ich möchte deine Freunde begrüßen«, sagt sie, während sie sich Finns Versuchen widersetzt, sie zurück in ihr Schlafzimmer zu dirigieren. »Es ist schön, dich endlich kennenzulernen, James. Ich bete für deinen Bruder.«
James weiß nicht, wohin mit seinen Händen. »Danke, Ma’am.«
Ich denke, dass die Eier anfangen zu verbrennen, und nehme die Pfanne von der Herdplatte.
»Mom«, sagt Finn sanft. »Du mutest dir zu viel zu.«
»Mir geht’s gut, Schatz, hör auf, so einen Wirbel zu veranstalten.« Sie macht ein paar schwerfällige Schritte zum Kühlschrank und stützt sich mit einer Hand auf die Gehhilfe, während sie mit der anderen den Kühlschrank aufzieht. Finn holt ihr ein Glas, während sie eine Packung Orangensaft herausholt. »Wie geht es deinem Bruder, wenn ich fragen darf?«
»Die Ärzte, ähm, sie sagen, dass sein Zustand kritisch ist. Er ist noch immer bewusstlos.« James’ Stimme ist kaum zu hören, er sieht Mrs. Abbott nicht an. Er hat sich nie leichtgetan mit Fremden, auch nicht unter günstigen Bedingungen. »Ich fahre jetzt zurück ins Krankenhaus.«
»Ja, natürlich«, sagt Mrs. Abbott. Finn nimmt ihr den Saft aus der zitternden Hand und schenkt ihr ein, und sie zieht sein Gesicht zu sich herunter, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Im Schrank sind ein paar Reisespiele, die auch gut für Warteräume sind. Ihr solltet sie mitnehmen. Finn, hol sie bitte.«
»Gleich.« Finn stützt seine Mutter am Ellbogen und hilft ihr aus der Küche. Aber es ist ein kleines Haus, deshalb hören James und ich jedes Wort, das sie sprechen, während sie durch den Flur ins Schlafzimmer gehen.
»Ich bleibe hier«, sagt Finn leise. »Ich will dich nicht schon wieder allein lassen.«
»Ach, Schatz, mir geht’s gut. Und dein Vater ist ja auch bald wieder zuhause. Du solltest jetzt für deinen Freund da sein.«
»Aber was, wenn du etwas brauchst …«
»Finn.« Das ist ein Ton, den ich von Luz kenne. »Ich bin hier die Mutter, okay? Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«
Als sich die Schlafzimmertür hinter ihnen schließt, drehe ich mich zu James. »Du hast das auch nicht gewusst, oder?«, frage ich, wobei ich versuche, normal zu klingen.
Er schüttelt den Kopf und meidet meinen Blick. »Sieht nach MS aus.«
»Warum hat er es uns nie gesagt?«
»Wahrscheinlich wollte er uns nicht damit belasten.«
Ich werde ganz klein. Erst vor ein paar Stunden habe ich Finn vorgeworfen, dass er sich nicht mit James’ Situation belasten wollte, ohne zu ahnen, wie schwer Finns Leben eigentlich ist. Ich will mir gar nicht ausmalen, was er von mir denkt, wie selbstsüchtig und verzogen ich ihm vorkommen muss. Selbstsüchtig, verzogen und verliebt in einen Jungen, der mich niemals wiederlieben wird. Selbstsüchtig, verzogen und unter Wahnvorstellungen leidend.
Ich beginne, mich selbst zu hassen.
Morris und Spitzer fahren uns ins Krankenhaus zurück, und James ruft von unterwegs Vivianne an.
»Wie geht es ihm?«, frage ich, als er aufgelegt hat.
»Unverändert. Sie haben gesagt, sobald er stabil genug ist, verlegen sie ihn ins Walter Reed, wo die Sicherheit besser ist.«
»Haben sie etwas über denjenigen gesagt, der auf dich geschossen hat?«, fragt Finn. Ich blitze ihn an. »Äh, ich meine … diejenigen?«
»Diejenigen?«, fragt James.
»Ja. Marina hat sie gesehen.«
»Wirklich?« James schaut mich zum ersten Mal an, seitdem ich in sein Bett gestiegen bin. »Das wusste ich nicht.«
Ich zucke die Achseln. Die ganze Episode erinnert mich nur wieder daran, wie nutzlos ich bin. »Mir hat sowieso niemand geglaubt.«
»Warum nicht?«
»Weil sie behauptet, dass die Schützen genau wie sie und ich aussehen«, sagt Finn.
James runzelt die Stirn. »Was soll das heißen: genau wie ihr?«
»Es heißt, dass es ein Junge und ein Mädchen mit einer Pistole waren, und sie sahen Finn und mir zum Verwechseln ähnlich, okay?«, sage ich. »Ist ja auch egal. Anscheinend war ich bescheuert.«
»Der Agent dachte, sie spinnt«, sagt Finn.
»Danke sehr!«
Er lacht. »Na ja, er dachte das. Ich glaube dir!«
»Das tröstet mich enorm«, sage ich. »Weil es ja so
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