Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
dass er nicht aufwacht, falls er doch schläft.
»Komm rein, Marina.«
Ich drücke die Tür auf und finde ihn auf Finns Bett sitzend, die Decke liegt verheddert um seine Beine.
»Hast du gar nicht geschlafen?«, frage ich.
»Ein bisschen schon, glaube ich«, sagt er. »Aber meine Gedanken drehen sich die ganze Zeit im Kreis. Ich kann … ich kann einfach nicht glauben, wie sehr sich alles geändert hat. Wie schnell.«
Ich setze mich neben ihn auf das schmale Einzelbett, das unter mir einsinkt, sodass er auf mich zurutscht. »Ich weiß.«
»Wenn er stirbt …« James starrt geradeaus, auf etwas, das ich nicht sehen kann. »Ich kann nicht in einer Welt leben, in der es keinen Nate gibt.«
»Er wird wieder gesund«, sage ich, obwohl sich die Worte hohl anfühlen. »Alles wird wieder gut.«
James’ Gesichtszüge entgleisen, zerbrechen wie die Fassade eines Gebäudes, das zu einem Haufen Ziegelsteine zusammenstürzt. Er beginnt zu weinen, das Gesicht in die Hände vergraben. Ich bin erleichtert. Gequälte Schluchzer schütteln seinen ganzen Körper, aber das ist so viel leichter zu ertragen als das ausdruckslose Gesicht und die toten Augen, die wir seit Stunden an ihm sehen. Ich schlinge meine Arme um ihn, und er lehnt sich an mich.
»Kannst du bei mir bleiben?«, fragt er.
Ich nicke, und wir lassen uns zurück aufs Bett sinken. Er legt mir die Arme um die Hüfte und verbirgt das Gesicht in meiner Halsbeuge. Ich war ihm noch nie so nah, und ich bin bestimmt ein schlechter Mensch, weil ich es ein wenig genieße. Wie viele Nächte habe ich in meinem Bett gelegen und mir James an meiner Seite vorgestellt? Noch letzte Nacht habe ich geplant, ihn zu verführen. Mein Verstand weiß, dass das hier nur eine kranke Farce meiner Fantasien ist, aber mein Körper bekommt das nicht ganz mit. James ist so warm. Ich streiche ihm mit der Hand immer wieder über den Rücken und bin mir sicher, dass sich kein anderer so gut anfühlt.
Als seine Schluchzer langsam verebben, drückt James mir einen Kuss auf die Wange und lehnt seine Stirn an meine Schläfe.
»Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, Kleines«, flüstert er.
Meine Brust verengt sich zu einer heißen, kribbelnden Kugel. »Mir geht’s genauso.«
James küsst mich wieder, diesmal aufs Kinn, ganz nah an meinem Mundwinkel. Dort verharrt er, sein Mund nur Zentimeter von meinem entfernt. Ich nehme alles nur noch weiß und verschwommen wahr, und die Welt schrumpft auf den Raum zwischen unseren Lippen zusammen.
James zieht sich zurück und legt den Kopf auf meine Schulter, und ich hole tief Luft. Gott, ich glaube, ich habe die ganze Zeit nicht geatmet. Ich sollte aufstehen und aufs Sofa zurückkehren, aber James liegt so schwer auf mir, sein Körper drückt sich von der Schulter bis zum Knie an mich. Sein Atem geht langsamer, und ich glaube, dass er endlich doch eingeschlafen sein könnte.
Er mag mich nicht richtig geküsst haben. Aber vielleicht bin ich genau das, was er gebraucht hat.
Ich schließe die Augen.
Em
Ich starre auf die beiden, wie sie ineinander verschlungen daliegen, bis in dem bitterkalten Wind meine Augen zu tränen beginnen und meine Sicht verschwimmt.
Ich könnte es jetzt tun. Die Waffe steckt hinten in meinem Gürtel. Ich könnte sie ziehen, James durchs Fenster hindurch erschießen und es ein für alle Mal hinter mich bringen.
Aber Marina liegt neben ihm. Noch im Schlaf hält sie sich an ihm fest, und ich erinnere mich so lebhaft daran, wie es war, dieses Mädchen zu sein, diesem Jungen so nah zu sein, ihn mit diesen Fingern festzuhalten. An das Gefühl seiner Arme und an seinen Geruch. Daran, wie sehr sie – ich – ihn geliebt hat.
Ich ziehe die Waffe aus dem Gürtel und halte sie vor mich. Sie ist warm, weil ich sie auf meiner Haut getragen habe, und meine Hände werden plötzlich feucht, als ich die Finger darum schließe. Ich entsichere sie, und das leise Klicken klingt wie eine Explosion in meinen Ohren.
Ich sollte es jetzt tun. Um mir und Finn noch mehr Elend zu ersparen. In fünf Sekunden könnte alles vorbei sein. Ich würde nicht mehr existieren und diesen schrecklichen Schritt nicht mehr bereuen müssen, zu dem ich gezwungen wurde.
James bewegt sich im Schlaf und zieht Marina enger an sich.
Ich schließe die Augen. Der Anblick der beiden raubt mir alle Kraft. Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass dieser Junge auf dem Bett schon fort ist. Der Mann, der in der Zukunft sein Gesicht trägt, ist bis zur
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