Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
schaue hoch, als mir aufgeht, was ich gesagt habe. Ich blöde Kuh. Ich werfe einen Blick zu Finn. Auf seinem Kinn leuchtet ein Bluterguss in zornigem Rot. »Es war … als du im Auto vor deinem Haus geschlafen hast. Ich habe Marina und James durch ein Fenster beobachtet.«
»Zusammen?«
»Sie haben nur geschlafen«, sage ich leise.
Wortlos reißt Finn das Steuer herum. Wir verlassen den Highway über eine schmale Ausfahrt.
»Was machst du da?«, rufe ich. »Wir werden sie verlieren!«
»Ist mir egal. Du hast doch selbst gesagt, dass wir schon so gut wie gescheitert sind.«
Er fährt auf den Parkplatz einer Tankstelle und steigt aus dem Wagen, die Tür knallt er hinter sich zu. Der Lärm hallt in meinem Körper wider, als hätte Finn gebrüllt, ohne den Mund zu öffnen. Er verschwindet in der grell erleuchteten Tankstelle, und ich sitze wie erstarrt im Auto. Die Scham hält mich auf meinem Sitz fest, sie macht, dass ich mich klein fühle.
Er bleibt lange weg. Zuerst schaue ich ständig auf die Uhr, zähle im Geiste die Sekunden und suche die Fenster nach seinem blonden Schopf ab. Aber schließlich gebe ich auf. Ich reibe mit den Händen über meine Arme, um die Kälte abzuhalten, die durch das eingeschlagene Fenster hereindringt, das wir notdürftig mit einer Mülltüte zugeklebt haben.
Als er endlich zum Wagen zurückkehrt – mindestens eine halbe Stunde später –, hat er zwei Kaffeebecher in der Hand, und an seinem Handgelenk baumelt eine Plastiktüte. Er öffnet die Tür und setzt sich wieder hinters Steuer.
»Es tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe«, sagte er. »Aber bitte sprich mich nicht an, noch nicht.«
Ich schlucke und nicke.
Er gibt mir einen Becher, der wunderbar warm in meiner Hand ist, und packt den Inhalt der Tüte aus. Zwei Truthahnsandwiches, Kartoffelchips und eine Schachtel Oreo-Kekse. Gott, wie viele Male habe ich in dieser Zelle von Oreos geträumt? Wie viele Male habe ich zu Finn gesagt, dass ich am meisten bereue, nicht mehr davon gegessen zu haben, als ich es noch konnte, weil ich dumm genug war, mir Sorgen über Zucker und Fett zu machen? Meine Augen brennen plötzlich. Ich hebe den Kaffeebecher an den Mund und nutze die Bewegung, um das Wegwischen der Tränen zu verbergen.
»Du bist noch immer in ihn verliebt«, sagt Finn schließlich ganz ruhig. Ich wünschte, er würde mich anschreien oder mich schütteln. Es wäre einfacher zu ertragen, als ihn so müde zu hören. So traurig.
»Finn …«
»Ich wusste es«, sagt er. »Ich hätte es immer wissen müssen, und vielleicht hab ich das auch, aber als ich dich mit ihm in diesem Hotelzimmer sah … die Art, wie du dich an ihm festgehalten hast …« Er fährt mit den Fingern die dünne Narbe auf seinem rechten Handrücken nach. Es ist eine nervöse Angewohnheit. Er hat sich die Wunde zugezogen, als er irgendwo in South Carolina einen Reifen wechselte. Sie wäre gut abgeheilt, wenn er zu einem Arzt gegangen wäre, um sie nähen zu lassen, aber er wollte nicht, dass wir wegen ihm langsamer werden. »Ich weiß, dass die Liebe zu einem Menschen nie ganz weggeht, aber es ist hart für mich. Ich sehe, wie Marina sich ihm gegenüber verhält, und es reißt mich immer noch in Stücke. Das kann ich ertragen, aber nicht, dass du zu ihr wirst. Ich kann nicht immer nur der Trostpreis für dich sein, Em. Ich … ich liebe dich einfach zu sehr.«
Ich bin wie ein Fisch auf dem Trockenen, ich starre hilflos umher und schnappe nach Luft.
»Ich weiß, dass du mich gern hast oder irgend so was«, fährt er fort, »aber wenn du James noch immer liebst, muss ich das wissen. Zumindest das habe ich verdient.«
»Finn …«, sage ich und strecke die Hand nach ihm aus.
Ich komme nicht dazu, den Satz zu beenden. Das Ziehen beginnt hinter meinem Bauchnabel, und Entsetzen überwältigt mich. Nicht schon wieder. Ich will keinen weiteren Splitter meiner Vergangenheit durchleben müssen. Aber ich habe keine Wahl. Ich werde von der Flut davongetragen und mit solcher Gewalt zurückgeworfen, dass die Welt um mich her verschwimmt.
Ich öffne die Augen. Mir war nicht bewusst, dass ich sie geschlossen hatte. Ich sitze auf der hinteren Veranda des Hauses in West Virginia und sehe zu den Bergen in der Ferne hinüber, die sich als schwarze Silhouetten vor dem schiefergrauen Himmel abzeichnen. Alle anderen sind drinnen und sitzen streitend am Esstisch. Schon wieder.
Die Tür hinter mir geht auf, aber ich mache mir nicht die Mühe, mich umzudrehen.
Weitere Kostenlose Bücher