Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
war ein Schild befestigt, auf das mit unglaublich feinen, zarten Tuschestrichen ein Vogel gemalt war, der in seinem Schnabel ein weißes, flatterndes Band hielt; auf dem Band standen Worte geschrieben in so phantasievoll verschnörkelter Manier, dass sie kaum zu lesen waren. Sie besagten, dass der Mann in eben dieser Schrift den Namen seiner Kunden auf ein Dutzend Visitenkarten schrieb, während man darauf wartete; das Ganze kostete zehn Cents.
Und es gab Juweliere, Konditoreien, Drugstores, wir kamen an einem Restaurant namens Purcell’s und an einem namens Maillard’s vorbei. Es gab einige Zigarrenläden, und zwischen Madison Square und Union Square müssen wir an fünf oder sechs Hotels vorbeigekommen sein, wo ein endloser Strom Zigarren rauchender, Zylinder tragender, überaus wichtig aussehender Männer aus und ein ging. Immer wieder hingen Schilder über den Gehwegen: vergoldete Holzuhren bei Juwelieren, ein Holzschuh bei einem Schuhmacher, vor jedem Zigarrenladen stand eine lebensgroße Holzfigur, die eine Reihe von Zigarren in der Hand hielt. Einige der Figuren waren Indianer, einer ein schön geschnitzter und sorgfältig bemalter Schotte. Es gab auch einen Baseballspieler, Uncle Sam und eine Figur mit wunderlichem Ziegenbart und breitkrempigem Hut, die ich für Buffalo Bill hielt. Zwei der Hotels verfügten über einen Barbierladen, der sich im Untergeschoss befand. Am Bordstein vor den Läden stand die hölzerne, spiralförmig rot-weiß gestreifte Stange der Friseure, die mit vergoldeten Kugeln gekrönt war.
Nördlich des Union Square spielte eine, wie Julia sie nannte, ›deutsche Kapelle‹: fünf Männer mit Klarinette, Trompete und drei Hörnern, wahlweise eine Posaune. Sie spielten gut, richtig gut; als wir vorbeigingen, pausierten alle bis auf den Trompeter, der eine Reihe von steigenden und fallenden Trillern blies, die sich großartig anhörten. Ich warf einige Münzen in den Filzhut, der vor ihnen lag.
Nicht weit von uns sah ich ein Pferd aus dem Verkehr des Broadway ausscheren, wo es am Bordstein aus einem Steintrog Wasser trank. Ecke Broadway und 15th Street kamen wir zu Brentano’s Literary Emporium, und ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaubte, in der Ferne ein Schild mit der Aufschrift Tiffany’s gesehen zu haben. Ich wollte Julia danach fragen, aber sie warf mir einen seltsamen Blick zu und kam mir zuvor.
Sie sagte: »Woher wussten Sie, was es war?«
»Wusste, was was war?«
»Der Arm der Freiheitsstatue.«
Ich hatte keine Antwort parat; wie konnte ich es nur gewusst haben? »Ich habe eine Fotografie davon gesehen.«
Sie zweifelte. »Oh! Wo?«
Nun, wo konnte ich sie gesehen haben? »In Frank Leslie’s Illustrated Newspaper. Mir war nur nicht bewusst, dass sie hier in New York ist.«
Sie nickte, dann runzelte sie die Stirn. »Eine Fotografie?«
»Ja, natürlich. Ich bin mir sicher, dass der Holzschnitt nach einer Fotografie gemacht worden ist.« Sie nickte zufrieden, und ich sagte: »Sehen Sie nur!« – keineswegs wissend, wohin sie schauen sollte, aber ich wollte das Thema wechseln. Da erblickte ich gerade rechtzeitig eine kleine Menschenmenge, die sich vor einem Schaufenster drängte, und deutete darauf. Wir gingen hinüber; es war der Laden eines Fotografen, Sarony’s, und die Menge betrachtete die ausgestellten Sepia-Fotografien: Schauspieler in Kostümen und Trikotagen; langhaarige, bärtige Politiker, Schriftsteller, Dichter, Generäle aus dem Bürgerkrieg. Aber der kleine Menschenauflauf, der ununterbrochen in Bewegung war, befasste sich mit dem größten Stück der Ausstellung, einer vergrößerten Fotografie, die sich auf einer Staffelei befand. Eine Vase mit Gänseblümchen stand davor.
Ein außergewöhnliches Gesicht, das mir bekannt vorkam: ein junger Mann mit schulterlangem Haar und dem Anflug eines Lächelns; er trug einen langen schwarzen Wintermantel mit einem mächtigen, schalähnlichen Pelzkragen und sehr breitem Pelzbesatz an den Ärmeln; in den Händen hielt er ein Paar weiße Handschuhe. »Oscar Wilde!«, rief ich aus, Julia und ein oder zwei andere Leute betrachteten mich mitleidig. Als wir gingen, sagte Julia überlegen: »Wissen Sie, ich war auch bei seiner Vorlesung dabei.«
»Welche Vorlesung?«
»Sie sind wirklich ein Ignorant. Ich dachte, jeder hätte davon gehört. Seine Vorlesung in der Chickering Hall vor einigen Wochen.«
»Oscar Wilde hat hier gelesen? Und Sie haben ihn gehört? Sie waren wirklich da? Was hat er
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