Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
Vom Netzwerk:
Meter höher als die Türme der Brooklyn Bridge, nicht zuletzt deswegen, weil die Kirche höher lag. Mindestens fünftausend Besucher besichtigten jedes Jahr den Kirchturm, wahrscheinlich sogar mehr, aber sehr selten käme es vor, dass ein New Yorker allein hier hochstieg; noch nie hätte jemand versucht, von hier aus Selbstmord zu begehen und so weiter, und so fort, während ich auf die Upper Bay hinausstarrte.
    Der Himmel war stahlblau, die Luft sehr klar und ließ alles deutlich hervortreten. Hinter den niedrigen Dächern konnte ich die beiden Flüsse erkennen, ihr Wasser – vor allem das des Hudson – kräuselte sich und war grau wie Blei. Entlang der South Street zu meiner Linken waren Hunderte und Aberhunderte von Masten zu sehen und Fähren, deren große Schaufelräder das Wasser aufwühlten. Mein Blick schweifte in alle Richtungen; ich sah erstaunlich viele Bäume, vor allem im Westen, und fühlte mich erneut an Paris erinnert. Ich blickte auf die Gehwege und die Köpfe der Passanten hinunter, auf die kleinen Kreise ihrer Seidenhüte, die matt schimmerten. Am gegenüberliegenden Fenster ging der Blick nach Norden, über das Dach des Postamts hinweg zum City Hall Park. Dahinter, etwas mehr im Osten, standen die großen steinernen Türme, die die riesigen Kabel trugen, an denen die Fahrbahnen der Brooklyn Bridge hängen würden; ich sah Arbeiter, die sich auf provisorischen Planken hin und her bewegten, die die großen Zwischenräume der noch nicht fertigen Straßen überbrückten; man konnte durch sie hindurch den Fluss deutlich erkennen.
    Ich bekam einen großartigen Eindruck von der Stadt, das zeitgenössische Pendant zum späteren Blick vom Empire State Building. Der Vergleich war alles andere als lächerlich, dachte ich, als ich über die Stadt blickte. Das hier war nun einmal der höchste Punkt in der Stadt, auch wenn er später zwischen wesentlich höheren Gebäuden verschwinden sollte. Und wenn ich eines Tages über neunzig Stockwerke hochsteigen sollte, nur um einen diesigen, vom Smog beeinträchtigten Blick auf New York werfen zu können, statt dieser brillantklaren, sehr viel intensiveren Ansicht einer nicht so hohen und freundlicheren Stadt, warum sollte ich mich dann lustig darüber machen? Ich wollte die Aussicht skizzieren, aber es hätte Stunden gedauert, wenigstens die Umrisse anzudeuten. Jetzt aber hatte ich keine Zeit mehr. Am Fuß der Treppe gab ich meinem Führer einen Quarter, was ihn sehr freute; dann machte ich mich schnell auf den Weg zurück zum City Hall Park.

14
    Vierundzwanzig Minuten nach zwölf stand ich im ersten Stock des Postamts an einem Fenster, das zur Rückseite hinausging, und schaute über die Straße nach Norden auf den kleinen winterlichen Park und die Leute, die auf den sich kreuzenden Wegen schlenderten; da wurde mir auf einmal die Seltsamkeit meines Tuns bewusst. Während ich aus dem rußbeschmutzten Fenster starrte, musste ich an den Brief in Kates Apartment denken, das an den Rändern vergilbte Papier, die einstmals schwarze Tinte, die mit der Zeit verblichen war. Und das Treffen in diesem Park, das durch diesen Brief arrangiert worden war, wurde zu einem historischen Ereignis, das Jahrzehnte zurücklag und längst in Vergessenheit geraten war.
    Konnte es wirklich kurz bevorstehen? Es fiel mir schwer, das zu glauben. Immer noch gab es ein fortwährendes Kommen und Gehen in diesem Park, doch es war kein mir bekanntes Gesicht darunter. Gerade vor mir, und gegenüber der Park Row, befand sich das fünfstöckige New York Times Building, das ich in der Nacht gesehen hatte, als ich mit Kate zur Station der Hochbahn gegangen war. Wieder beschlich mich ein seltsames Gefühl, als ich daran dachte, dass es auch noch im Manhattan des zwanzigsten Jahrhunderts stehen würde. Bei Tag las ich nun die langen schmalen, unter den Fenstersimsen angebrachten Schilder der Mitmieter des Gebäudes: Forest, Stream Rod & Gun … Leggo Bros.  … Das Times -Building schloss rechts an ein weiteres fünfstöckiges Sandsteingebäude an, das sich fast direkt mir gegenüber befand. Es hatte hohe schmale Fenster. Seine Fassade war – wie die des Times- Building und die der meisten anderen Häuser in dieser Gegend – voller schmaler, schwarz-goldener oder schwarz-weißer Firmenschilder, die unter den dazugehörigen Fenstern hingen. Dann fiel mein Blick auf den Eingang, und ich sah Jake Pickering dort stehen.
    Ich befand mich im Postamt, gegenüber dem südlichen Ende des City Hall Park.

Weitere Kostenlose Bücher