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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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blickten von ihrer Taschenuhr zum Dach eines der höchsten Gebäude hoch. Das Dach war ein mit Schindeln gedeckter, vielgiebeliger Komplex mit pyramidenförmigen Türmen unterschiedlicher Größe. In seiner Mitte erhob sich ein rechteckiger Turm, der an seiner Basis von einem eingezäunten Rundgang umgeben war. Western Union Telegraph Co. stand darauf, und nun sah ich auch, dass viele der unzähligen Drähte, die sich über die Straßen hinzogen, von diesem Turm ausgingen. Das Dach des Turms krönte ein hoher Mast mit der amerikanischen Flagge und an seiner Spitze erblickte ich eine große, leuchtend rote Kugel. Anscheinend besaß sie, ähnlich einem heutigen Doughnut, in der Mitte ein Loch, durch das der Mast hindurchlief; sie musste auf Meilen zu sehen sein.
    Ich verstand nicht, was hier passierte, zückte aber gleichwohl ebenfalls meine Uhr – es war zwei Minuten vor zwölf auf ihr – und stand wie die vielen anderen Männer am Straßenrand. Plötzlich, begleitet von einem erleichterten Aufseufzen, rutschte die rote Kugel den Fahnenmast hinab, und der neben mir stehende Mann murmelte: »Mittag, exakt.« Sorgfältig stellte er seine Uhr, ich tat es ihm gleich und schob den Minutenzeiger vor. Überall um mich herum hörte ich das Zuschnappen der Uhrdeckel. Die Männer, die eben noch geduldig wartend hier gestanden hatten, wandten sich nun wieder ihren Geschäften zu; ich schmunzelte in mich hinein: Etwas an dieser kleinen Zeremonie, die uns alle für einen Moment vereint hatte, hatte mich angerührt.
    Ein wenig später setzte die Melodie eines Glockenspiels ein; ich kannte sie: ›Rock of Ages‹. Als ich mich suchend danach umsah, musste ich unwillkürlich lächeln. Die Musik stammte von einer meiner alten Freundinnen, Trinity Church. Ihr Glockenspiel klang klar und rein durch die Winterluft. Ich eilte zu ihr hin. Dann, einige Dutzend Schritte von der Kirche entfernt, den Rücken gegen einen Telegrafenmast gelehnt, machte ich eine schnelle Skizze, die ich später ausführen wollte. Ich hatte diese Kirche bereits früher einmal gezeichnet, jetzt aber erhob sich ihr Turm schwarz in den Himmel und war höher als jedes andere Gebäude in ihrer Umgebung. Als ich mit der Zeichnung fertig war, kritzelte ich Notizen an den Rand für die spätere Überarbeitung, betrachtete sie, und ein Botenjunge in blauer Uniform mit Messingknöpfen trat heran, besah sich die Skizze, nickte und ging dann weiter. Hier ist die fertige Skizze (s. nächste Seite); sie ist sehr genau, nur habe ich auch hier den Bäumen Laub hinzugefügt, diesmal, um ihre Schönheit und ihr Alter mehr herauszustellen. Das ist der Broadway, auf dem ich spazieren gegangen bin – in mittlerer Entfernung links ist das Western Union Building mit der Kugel zu sehen, die wenige Minuten zuvor die Stange hinuntergerutscht war.
    Auf dem Rückweg, während ich die grobe Skizze betrachtete, war ich versucht, die Geister der riesigen Türme hinzuzufügen, die eines Tages Trinity Church umgeben und den Kirchturm auf dem Grund eines Hochhaus-Canyons begraben würden. Aber ich kam in diesem Moment am Eingang der Kirche an, und vier oder fünf Männer, die auf dem Gehweg herumstanden, forderten mich auf, die Kirchturmspitze zu besichtigen. »Höchster Punkt in der City, Sir! Bester Blick über die Stadt!« Ich hatte Zeit und nickte demjenigen zu, der mein Geld am nötigsten zu brauchen schien.

    Drinnen führte er mich eine steile, sich endlos windende Steintreppe nach oben, vorbei an den Glocken, die so ohrenbetäubend klangen, dass die einzelnen Töne nicht voneinander zu unterscheiden waren. Schließlich erreichten wir in der Spitze einen hölzernen Rundgang, der an schmalen offenen Fenstern vorbeiführte. Ich spürte die vielen Stufen in den Beinen, versuchte mein schweres Atmen zu verbergen und griff nach einem der steinernen Fenstersimse, um ein wenig zu verschnaufen, nicht ohne mich zu vergewissern, dass sie auch hielten. Der Führer lachte. »Ich habe darauf gewartet, dass Sie ihn anfassen; das tun alle. Nicht einer von zehn lehnt sich daran, ohne vorher zu prüfen, ob er hält. Es waren auch schon Männer hier mit mir oben, die sich dem Fenster nicht mehr als einen halben Meter genähert haben, wenn es offen war. Und Frauen, denen vor dem Blick nach unten schwindelte.« So plauderte er in einem fort, während ich mich umsah: der Kirchturm sei sechsundachtzig Meter und fünfzig Zentimeter hoch, sagte er, und der höchste Punkt der Stadt; damit sei er fast fünf

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