Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
Vom Netzwerk:
anderen tranken Kaffee. Wir hörten die Eingangstür nicht, aber wir spürten den Zug, den unsichtbaren Hauch kalter Luft, der unsere Beine streifte. Ich sah Julia und ihre Tante an.
    Er stand in der Mitte des Raums, direkt unter den vielen Flammen des Kronleuchters, und starrte uns an – stand vor uns wie ein Bär, der sich auf seine Hinterbeine gestellt hatte. Sein Mantel war noch immer aufgeknöpft, den Hut, matt unter den Lichtern schimmernd, hatte er noch immer auf dem Kopf – so stand er da, den Kopf nach vorne gestreckt, mit herabhängenden Schultern und baumelnden Armen und gespreizten Fingern. Er stand einfach nur da, schwankte hin und wieder ein wenig, und wir hatten genug Zeit zu erkennen, dass er anscheinend verletzt war; seine Krawatte war verschwunden, der Hemdkragen offen und zerrissen, die obersten Knöpfe fehlten, und die weiße Hemdbrust war voller Blutflecken. Und wir, die wir regungslos dasaßen und ihn anstarrten, sahen mit einem Mal, dass die Blutflecken immer größer wurden. Er stand da und blutete – wir brauchten einen Augenblick, bis wir das begriffen hatten, dann rief Julia: »Jake?«, ihre Stimme klang ängstlich und besorgt. Sie erhob sich so schnell, dass der Stuhl nach hinten flog und umkippte; es klingt verrückt, aber ich bemerkte, dass er fast geräuschlos auf dem Teppich aufschlug.
    Sie eilte um den Tisch herum und auf ihn zu. Aber Jake streckte nur abwehrend die Hände aus, die Finger wie Klauen gespreizt. Einen Moment lang starrte er uns mit gefletschten Zähnen und seinem gelblich fremdartigen Gesichtsausdruck an. Dann flogen seine Hände nach oben, ergriffen den Rand seiner Hemdbrust und rissen das blutige Hemd mitten durch. Seine schwarz behaarte Brust war zu sehen, nur in der Mitte schimmerte die Haut sehr weiß. Er war nicht verletzt oder verwundet, das heißt, nicht durch einen Unfall. Das Blut, das in Tropfen aus der Haut trat und nun nicht mehr vom Hemd aufgesaugt wurde, sondern in kleinen Rinnsalen hinablief, kam aus unzähligen Nadelstichen.
    Es war unglaublich, aber er hatte sich soeben tätowieren lassen – mit fünf blauschwarzen Buchstaben, die mindestens fünf Zentimeter groß waren. Ich hätte über diese Absurdität am liebsten laut aufgelacht oder protestiert oder die Augen geschlossen, um mir einzureden, dass es so etwas gar nicht geben konnte. Ich war ziemlich verwirrt, aber trotzdem konnte ich genau erkennen, dass die tätowierten Buchstaben auf seiner Brust das Wort Julia bildeten. Er sagte: »Nun werde ich mein ganzes Leben lang das hier tragen.« Er tippte mit den Fingerspitzen auf seine Brust. »Das kann niemand wegwischen. Und so wirst du mein ganzes Leben lang mir gehören, und daran kann niemand etwas ändern.« Er sah uns an; sein Blick wanderte von einem zum anderen. Dann drehte er sich um, ging würdevoll in die Diele zurück und die Treppe hinauf in sein Zimmer; mir war nicht mehr nach Lachen zumute. Es war eine absolut absurde Geste, unvorstellbar für das Jahrhundert, in dem ich groß geworden war. Aber nicht in diesem. In diesem war daran überhaupt nichts Absurdes, denn dieser Mann meinte es genau so.
    Julia, noch bleicher als zuvor, eilte aus dem Esszimmer, durch den Salon, dann hörten wir ihre Schritte auf der Treppe. Ich hatte meine Reisetasche in der Diele abgestellt, Mantel und Hut hingen an dem großen Ständer – ich wollte nicht mehr bleiben. Ich war hier überflüssig. Ich wandte mich an Tante Ada, sagte, ich müsse nun gehen, sie lächelte unbestimmt; über den Tisch hinweg gaben wir uns die Hand und wünschten uns gegenseitig alles Gute. Ich verabschiedete mich von den anderen, deren Blicke immer wieder zur Diele hinüberhuschten. Dann war ich draußen und auf dem Weg zur 23rd Street.
    An der Lexington Avenue rief ich eine Droschke und lehnte mich mit geschlossenen Augen auf dem Sitz zurück. Mein Interesse an der Welt da draußen war erloschen. An der 59th und 5th Avenue, wo Kate und ich aus dem Park gekommen waren, entlohnte ich den Kutscher. Dann ging ich durch den düsteren, unveränderlichen Park im spärlichen Licht seiner wenigen Laternen nach Nordwesten und erblickte schließlich die giebelige Silhouette des Dakota, seine von Gaslicht erleuchteten Fenster und die flackernden Kerzen und Petroleumlampen der umliegenden Farmhäuser.

16
    Am nächsten Tag gönnte ich mir Urlaub; ich redete mir ein, dass ich ihn verdient hatte, aber es war einfach so, dass ich ihn dringend brauchte: Ich brauchte eine längere Zeitspanne

Weitere Kostenlose Bücher