Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Western Union ihre großen Uhren nachstellten – nun, sie wirkten oft zerstreut; manche beunruhigt, manche habgierig, manche Gesichter spiegelten Furcht, manche Selbstzufriedenheit wider, als gäbe es für sie keine Regeln. Dieselben Mienen wie heute, aber auch sie waren an ihrer Umgebung interessiert und blieben vor Hudnuts riesigem Thermometer stehen. Vor allem aber waren sie erfüllt von der unbeirrbaren Gewissheit für den Sinn des Lebens. Man konnte es ihnen ansehen: sie waren nicht übersättigt und nicht blasiert. Allein von ihrem Anblick gewann ich die Überzeugung, dass diese Männer durch das Leben gingen, ohne jemals daran zu zweifeln, dass ihr Leben einen Sinn hatte. Dieses Wissen zu haben, bedeutet viel, es zu verlieren bedeutet, auf etwas Wesentliches verzichten zu müssen.
Die Gesichter heute haben diesen Ausdruck nicht mehr; wenn sie allein sind, sind sie leer und verschlossen. Ich begegnete Paaren oder Gruppen von Leuten, die sich mehr oder weniger angeregt unterhielten, manchmal lachten sie auch fröhlich – aber nur als Teil in der Gruppe. Sie waren nicht Teil des Lebens um sie herum, sie blieben ihm fremd und blieben es auch der Stadt gegenüber, in der sie lebten, und betrachteten sie mit Argwohn; so war New York in den Achtzigern nicht.
Ich wollte meine Eindrücke überprüfen. An der 23rd Street wandte ich mich nach Westen und näherte mich schließlich dem Madison Square. Einen halben Häuserblock entfernt blieb ich stehen und sah mir den Platz genau an. Von hier aus erschien er unverändert. Die Leute überquerten oder umrundeten ihn. Aber niemand von ihnen, und ich bin mir sicher, dass ich nicht alleine mit meiner Beobachtung dastehe, zeigte darüber besondere Freude. New York war einmal ganz anders, in vielerlei Hinsicht.
Bis auf die eine, die nördliche Seite, die heutzutage aus Apartmenthäusern besteht, war der Gramercy Park unverändert, auch Haus Nr. 19. Wieder stand ich auf dem Gehweg vor der Treppe und schaute an ihm hoch. An den Fenstern des ersten Stocks befanden sich nun heruntergelassene Jalousien, ansonsten aber konnte ich keine Veränderung bemerken; es schien unmöglich, dass Julia und ihre Tante nicht dort waren und ihrer morgendlichen Arbeit nachgingen. Noch einmal gab ich einem Impuls nach, bevor ich mich anderes besinnen konnte. Ich nahm gleich zwei Stufen auf einmal und – ein weiterer Unterschied, den ich aber nicht wahrnehmen wollte – drückte auf den elektrischen Klingelknopf. Nach einer geraumen Weile, ich war kurz davor, wieder zu gehen, öffnete eine Frau die Tür und blickte mich fragend an. Sie war in den Vierzigern, hatte volles weißes Haar, das mit einem Band nach hinten gebunden war, besaß aber eine Figur wie ein junges Mädchen und trug orangefarbene Hosen, einen Rollkragenpullover derselben Farbe und eine silbern schimmernde Weste. Sie sah sehr freundlich aus. Ich zog meinen Hut und sagte: »Es tut mir leid, aber ich kannte die Leute, die früher hier gewohnt haben. Vor einigen Jahren. Eine Miss Julia Charbonneau und ihre Tante. Aber ich sehe, sie wohnen hier nicht mehr.«
»Nein«, sagte sie freundlich. »Wir leben hier schon seit neun Jahren und die Leute vor uns vier Jahre lang. Aber sie hießen auch nicht Charbonneau.«
Ich nickte, als hätte ich das erwartet, was wohl auch der Fall war. Ich zögerte den Moment des Abschieds hinaus, um in die Diele schauen zu können; sehr höflich trat sie ein wenig zur Seite. Die Wände waren mit einem zarten blauen Muster auf weißem Untergrund tapeziert, von der Decke hing ein herrlicher Kristallleuchter. Die Diele sah teuer und ganz anders aus, nur der schwarz-weiß gekachelte Boden war derselbe.
Sie fragte mich natürlich nicht, ob ich das übrige Haus sehen wolle, das tut man nicht in New York. Ich lächelte und nickte, dankte ihr und ging. Ich wusste nicht genau, warum ich dort hingegangen war; ich hatte das Haus vermutlich einfach nur noch einmal sehen wollen. Ich ging zur 23rd Street zurück und nahm ein Taxi zum Projekt.
Die Atmosphäre dort war diesmal eine völlig andere. Der Mann an der Tür in dem winzigen Büro an der Straße war Harry, zumindest klärte mich der rot gestickte Aufdruck über der Brusttasche seines weißen Beekey-Overalls darüber auf. Er schickte mich alleine im Fahrstuhl nach oben zu Doc Rossoffs Büro. Seine Anweisung für den Fall meines Erscheinens, wie er sagte. Als ich dort eintraf, empfing mich nur Oscars Krankenschwester, die große attraktive Frau mit dem grauen
Weitere Kostenlose Bücher