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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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zwischen den beiden Welten und ihren Lebensweisen. Ich schlief im Dakota-Apartment; und obwohl ich glaubte, dass ich es nicht mehr benötigte, versetzte ich mich in eine leichte Hypnose, bevor ich mich schlafen legte. Im Finstern lag ich in dem großen verzierten Bett, trug dasselbe Nachtgewand wie in Gramercy Park neunzehn und wusste, dass weit unten in der Stadt das alte Postamt stand, dass seine Eingangshalle von einigen wenigen Gaslichtern beleuchtet wurde; dass sich auf dem dunklen Broadway vor Hudnuts Apotheke in einem hölzernen Wachhäuschen das große Thermometer befand, das sich wahrscheinlich gerade der Null-Grad-Marke näherte, und dass jetzt wohl niemand mehr davor stehen blieb. Dass auf den Hochbahngleisen über dem spätabendlichen Pflaster New Yorks einige kleine Lokomotiven einem Scheinwerferlicht folgten, das aus ihren Petroleumlaternen herrührte. Aber am Morgen, befahl ich mir, würde ich wieder in meiner Zeit aufwachen. Ich überlegte noch, wie ich es wohl diesmal empfinden würde, doch noch bevor ich mir ernsthaft Gedanken darüber machen konnte, zeigte die völlige Entspannung der Hypnose ihre Wirkung, und ich war eingeschlafen.
    Am Morgen, ich lag, nachdem ich die Augen geöffnet hatte, noch einen Moment im Bett, war ich mir sicher, wo und in welcher Zeit ich lebte; einige Sekunden später hatte ich den Beweis. Ich hörte ein Geräusch, das ich im ersten Moment nicht einordnen konnte: ein weit entferntes, hohes und etwas bedrohliches Wimmern. Dann sprach ich es laut aus – ›ein Flugzeug‹ –, aber ich hätte dieses Zeichens gar nicht bedurft: Ich wusste bereits, dass ich zurück war, ich konnte es spüren.
    Eine halbe Stunde später verließ ich das Dakota, ging hinaus auf die 72nd Street und wandte mich nach Westen. Ich wollte zum Lagerhaus und unserem Projekt. Doch dann, ohne darüber nachzudenken, ohne zu wissen, warum, drehte ich um, ging zur Straßenecke zurück und richtete meine Schritte gen Süden.
    Mein Weg führte mich, Block für Block für Block, hinein in das moderne Manhattan – mit meiner runden Pelzkappe, dem langen Mantel, Bart und langen Haaren unterschied ich mich kaum von den meisten anderen Männern, denen ich unterwegs begegnete. Mir war klar, dass ich das Projekt zumindest telefonisch benachrichtigen sollte – und Kate. Stattdessen tat ich, wozu ich Lust hatte: Ich spazierte durch die City, blieb manchmal an einem Fußgängerüberweg stehen und wartete, bis die roten Don’t walk -Zeichen auf Grün umschalteten und ihr Walk aufleuchtete; und ich sah mich in den heutigen Straßen um, betrachtete die Gebäude und die Menschen.
    Es gibt erstaunlich viele Relikte in New York, die aus anderen Zeiten stammen. Man glaubt es nicht, nicht von solch einer modernen Stadt wie New York, aber wenn man erst Midtown Manhattan verlassen hat, kann man sich sehr rasch davon überzeugen. Unterhalb der 54th Street begann ich schließlich einzelne Bauwerke und ganze Gebäudegruppen wiederzuerkennen, die noch aus den Achtzigern stammten oder noch älter waren. Aber das waren nicht die Ähnlichkeiten, nach denen ich suchte; ich suchte sie in den Gesichtern der Menschen und musste feststellen, dass ich sie kaum fand.
    Es war nicht eine Frage der Kleidung, der Art des sich Zurechtmachens oder der Haarmode. Die heutigen Gesichter sind tatsächlich anders; sie ähneln einander viel mehr und sind sehr viel weniger ausdrucksvoll. In den Straßen der Achtziger hatte ich dasselbe menschliche Elend gesehen, wie man es heute auch noch sieht; Hoffnungslosigkeit, Verderbtheit, Habgier und in den Gesichtern der Straßenjungen diese frühzeitige Härte, die man jetzt in den Gesichtern der Jungen aus Harlem findet. Aber in den Straßen des New York von 1882 war auch eine Erregtheit und Neugier auf das Leben zu spüren, die heute verschwunden ist.
    Sie war in den Augen der Frauen auf der Ladies’ Mile zu erkennen, die dort bummelten und diese herrlichen, heute nicht mehr vorhandenen Geschäfte aufsuchten. Ihre Gesichter waren lebendig; sie zeigten, dass sie sich wohl fühlten in der Welt, in der sie lebten. Und sie war auf den Gesichtern der Leute zu sehen, denen ich auf dem Madison Square begegnete. Man konnte ihnen die Freude darüber ansehen, wie sehr sie es genossen, in dieser winterlichen Stadt unterwegs zu sein. Und dann die Männer auf dem Lower Broadway, die eilig ihren Geschäften nachgingen, deren Bewusstsein von Zeit und Geld ganz erfüllt war, die am Mittag vor der roten Kugel der

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