Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Sonntag frei habe, gehe ich in die Kirche und nehme meine Frau und die Kinder mit. Das gehört sich schließlich so. Und dann besteigt der Priester die Kanzel und spricht von der Dankbarkeit, die wir Gott für den Segen, den er uns gibt, entgegenbringen sollen, und wie dankbar wir sein sollen, dass wir durch seine Gnade leben. Das mag schon wahr sein, so weit ihn das betrifft, aber ich denke oft und möchte nicht undankbar oder ungläubig erscheinen, dass die meisten Menschen auf dieser Welt recht wenig haben, wofür sie dankbar sein können, und dass es keinen Grund gibt, warum sie Gott für ihr Leben danken sollten. Neun Zehntel aller Menschen in New York finden in ihrem Leben kaum einen Moment für sich allein und erleben kaum etwas anderes als Elend, Jahr für Jahr.« Er war aufs Äußerste beunruhigt; man merkte es seiner Stimme an. Er schlug sich mit einem unstatthaften und gleichwohl unentrinnbaren Widerspruch herum. »Wie ist es mir möglich, mit meinem Herzen Gott zu danken für das Essen und das Leben, das er mir gibt, wenn ich jeden Krümel, den ich esse, mit Plackerei und unter Schmerzen verdiene? Es mag für die Reichen eine göttliche Fügung geben, aber der Arme muss für sich selbst Sorge tragen. Was den Wert des Lebens angeht, wir armen Menschen leben nicht für uns, wir leben für andere Leute. Ich frage mich oft, ob der Reiche, der große Lagerhäuser besitzt und sein Geld fast nicht mehr zählen kann, ob der, wenn er an seinem wohlgedeckten Tisch sitzt und in die Gesichter seiner glücklichen Kinder sieht, nicht auch an den armen Pferdekutscher denkt, der zu seinem Nutzen für einen Dollar und neunzig Cents den ganzen Tag arbeitet und der glücklich ist, wenn er zweimal in der Woche ein Stückchen Fleisch essen und den Kleinen warme Kleider und Decken für den Winter geben kann.
Kalt, sagen Sie. Nun, Menschen können sich an alles gewöhnen, nehme ich an, und so gewöhnen wir uns auch an die Kälte. Nach einer Weile macht sie uns kaum noch etwas aus. Früher ließen sie uns sitzen, aber vor einigen Jahren ist ein Mann dabei erfroren. Der Wagen kam zurück ins Depot, und den Fahrer fand man steif gefroren auf seinem Sitz, die eine Hand an der Bremse, in der anderen die Zügel. Er war weggedöst und ist nicht mehr aufgewacht. Der schreckliche Ort, an dem er im Jenseits vielleicht gelandet ist, ist wenigstens warm, obwohl ich gehört habe, dass die Eskimos glauben, in der Hölle sei es kalt. Jedenfalls konnte ihn nun niemand mehr zwingen, für einen Dollar und neunzig Cents einen Wagen zu fahren. Und was beschloss die Gesellschaft daraufhin? Die Plattformen zuzumachen? Nein, das kostet ja Geld. Es wurde eine Verordnung erlassen, dass die Angestellten sich nicht mehr hinsetzen dürfen, damit sie nicht einschlafen und erfrieren können. Man sagt zwar, dass das eine sehr angenehme Art sei zu sterben. Ich kann es mir vorstellen; mehr als einmal war ich kurz vor dem Wegdösen und spürte die Kälte nicht mehr. Aber ich habe mich jedes Mal wieder zusammengerissen und mit den Füßen gestampft, denn ich musste an meine Kleinen denken: Wenigstens schlafen sie nicht in den Heukähnen. Wenn ich nicht mehr wäre, bliebe ihnen wohl kaum etwas anderes übrig.«
»Heukähne?«
Er schaute mich wegen meiner Unwissenheit verärgert an. »Wo, glauben Sie, schlafen die Jungen – und, nun ja, auch die Mädchen –, die tagsüber Ihre Schuhe putzen und Zeitungen verkaufen? Die meisten von ihnen sind Waisen oder Kinder, die niemand mehr haben will und die auf sich selbst gestellt sind. Einige von ihnen finden abends einen Schlafplatz in den Heimen der Zeitungsjungen, die meisten aber dort, wo sie gerade etwas finden. Gehen Sie runter zum East River und leuchten Sie in die Heukähne; Hunderte von ihnen sind dort in den Docks und am Ufer festgemacht. Sie werden die Jungen sehen. Manche sprechen von Tausenden, was ich auch glaube, obwohl niemand genau weiß, wie viele es wirklich sind, die sich dort in den Heuladungen ihre Nester zurechtgemacht haben. Manche von ihnen sind noch nicht einmal fünf Jahre alt. Also ertrage ich um meinetwillen und meiner Kinder willen die Kälte. Manchmal versuche ich, durch einen Schluck Whiskey warm zu bleiben, aber nachher friert man nur noch umso mehr.«
In diesem Moment trat ein Mann mit Derby und in einem dicken Sweater, an dessen Halsausschnitt die graue Winterunterwäsche vorsah, aus einem Saloon und rannte zur Haltestelle an der Ecke. Während der Wagen abbremste, beschloss ich
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