Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
sich um einen Bobtail-Wagen, eine Bezeichnung, die ich von Byron Doverman gehört hatte und die bedeutete, dass kein Schaffner anwesend war. Auf der offenen Plattform, unter Aufsicht des Kutschers, befand sich ein großer Fahrgeldkasten, in den ich meinen Nickel warf, ich öffnete die Tür, trat ein und kämpfte beim Schließen mit dem Wind. Ein einziger Passagier saß darinnen, ein Mann mit Derby und Walrossschnauzer, der die Evening Sun las. Ich ging auf schmutzigem nassem Stroh den Wagen vor und setzte mich. Die blechummantelte Lampe, die unter der Decke baumelte, rauchte entsetzlich, es roch stark nach Petroleum.
Wir rollten durch die Nacht; geistesabwesend starrte ich hinaus auf die schäbigen kleinen Läden der 3rd Avenue, einige wenige besaßen blasse kleine Gaslichter tief in ihrem Inneren, viele hatten Zinnüberdachungen auf Pfosten über den Gehsteigen; einige der Blocks, an denen wir vorbeifuhren, sahen wie die Kulissen von Western-Filmen aus. Ich hatte dies alles bereits zuvor gesehen, dennoch wurde meine Aufmerksamkeit immer wieder aufs Neue geweckt und ich wurde nicht müde, es zu betrachten; die Spannung, die das Wunder erzeugte, hier in diesem fremdartigen New York zu sein, war noch immer nicht verflogen.
Ich hatte mich einmal mit einem Freund unterhalten, der seinen Urlaub in Paris verbracht hatte. Wie so viele liebte er diese Stadt; jeden Tag durchwanderte er sie, bis ihm die Beine vor Müdigkeit zitterten, und freute sich über fast alles, was er sah. Eines Morgens aber, nach fast zwei Wochen, wurden Paris und seine Menschen plötzlich zu etwas anderem als einer bloßen Hintergrundkulisse für Ferien. Er saß in einem Café auf dem Bürgersteig, trank eine Tasse nach Paris riechenden, nach Paris schmeckenden Kaffees, betrachtete den Verkehrsstrom und freute sich an den zahllosen Radfahrern, die sich gekonnt zwischen den Autos und Bussen und Lastwagen durchschlängelten. Dann sprang eine Ampel um, der Verkehr stoppte und alles wartete, und ein Mann auf einem Fahrrad, einen Fuß auf der Pedale, den anderen auf dem Boden, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Und plötzlich wurde alles real. In diesem Augenblick war der Fahrradfahrer nicht mehr nur Teil eines bezaubernden Hintergrunds; er wurde zu einem wirklichen Menschen, der müde vom Radfahren war, und meinem Freund wurde bewusst, dass es für all diese Leute, die so pittoresk durch den Verkehr fuhren, einen richtigen Grund dafür gab: Sie wollten das Geld für Bustickets sparen und konnten sich kein Auto leisten. Danach, in den wenigen Tagen, die ihm noch blieben, genoss mein Freund weiterhin den Aufenthalt in Paris. Aber die Stadt war nicht mehr nur ein riesiges Reiseposter, sondern eine wirkliche Stadt, denn die Menschen waren real geworden.
Hier, im Wagen der 3rd Avenue, bis zu den Knöcheln in dem verkoteten Stroh, mit immer noch kalten Füßen und tauben Zehen, erhaschte ich durch das kleine Fenster der Trennwand einen Blick auf den Fahrer, der die Zügel anzog, um den Wagen zum Halten zu bringen. Eine Frau mittleren Alters mit einem so irischen Gesicht wie die antiirischen Cartoons auf der letzten Seite der meisten Ausgaben von Harper’s Weekly, kletterte in den Wagen; über ihrem grauen Haar trug sie einen dicken Strickschal, der auch ihre Schultern bedeckte; sie hatte keinen Mantel an. An einem Arm hing ein Korb. Als sie die Tür öffnete, die kalte Luft hereinströmte und das Stroh auf dem Wagenboden raschelte, hörte ich das Schlittern und Klappern der Hufe, hörte den Knall der Peitsche, und als sich die Tür wieder schloss, erblickte ich den Körper des Kutschers, der mit den Füßen aufstampfte, hörte den gedämpften Ton des Stampfens, und plötzlich wurde er für mich wirklich, während ich verstand, wie kalt es dort draußen auf der offenen Plattform sein musste.
Und damit wurde auch die Stadt real; der Wagen war kein Museumsstück mehr, was er für spätere Zeiten sein würde, sondern befand sich im Hier und Jetzt: Er war aus massivem Holz, zerkratzt, unbequem, dreckig, das Stroh war mit Kautabaksaft bespuckt, gesteuert wurde er von einem sorgengeplagten, überarbeiteten Mann, gezogen von übel geschundenen Pferden. Es war kalt draußen auf der Plattform, aber ich stand auf, ging nach vorne, öffnete die Tür, trat hinaus und zog die Tür wieder hinter mir zu. Ich musste mit dem Mann reden.
Ich wollte ihn nicht einfach so überrumpeln. Ich stellte mich rechts neben ihn und starrte über die
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