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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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auszusteigen. Ich ließ mich auf das Trittbrett hinab und überlegte, was ich dem Fahrer sagen sollte: Viel Glück? Nein, ich glaubte nicht, dass er es jemals haben würde. Der Wagen hielt an und über die Schulter schaute ich noch einmal zu dem Fahrer zurück. »Gute Nacht«, sagte ich. Er nickte. »Gute Nacht.«
    Bei der Army wurde mir beigebracht, wie man in der Nacht die Augen benutzt; man blickt nicht direkt auf das, was man sehen möchte. Stattdessen schaut man leicht daran vorbei auf etwas anderes, und das Objekt, das man sehen möchte, erscheint nach einiger Zeit scharf in den Augenwinkeln. Manchmal funktioniert das Gehirn auf die gleiche indirekte Weise, wenn man ein Problem zur Seite legt und die Lösung nicht herbeizwingt. Ich ging zum Broadway hinüber, fand am Metropolitan Hotel eine Droschke, und als ich wieder am Gramercy Park war, wusste ich, was ich zu tun hatte.
    Es war eine lange Fahrt durch das dunkle verlassene Geschäftsviertel des Broadway, aber ich hatte ein windgeschütztes Plätzchen und war bis zur Hüfte in eine schwere Pelzdecke gehüllt, die ein wenig speckig war und streng roch, nach einer Weile aber kuschelig warm wurde. Das stete Geklapper der Pferdehufe, das durch das Milchglasfenster gedämpft zu hören war, übte eine fast hypnotische Wirkung auf mich aus, und die Gedanken in meinem Kopf ordneten sich wie von selbst. Die Stadt war am frühen Abend ein magischer Ort gewesen, voller Schlitten und Gesang und Lachen. Jetzt aber, spät in der Nacht, war mir bewusst, dass es auch die Stadt des Pferdekutschers war, mit dem ich soeben gesprochen hatte. Und während ich in Jakes Schlitten im Central Park spazieren fuhr, suchten zahllose obdachlose Kinder am Ufer des East River in den Heukähnen einen Platz zum Schlafen. Die Stadt war nicht mehr der exotische Hintergrund meines eigenen seltsamen Abenteuers. Sie existierte nun tatsächlich, jetzt erst verstand ich, dass ich mich wirklich in dieser Zeit befand und dass diese Menschen lebten. Und dass Julia lebte.
    Beobachte, greife nicht ein: eine Regel, die leicht zu formulieren und für das Projekt offensichtlich notwendig war … wobei die Menschen dieser Zeit nur als Geister betrachtet wurden, die aus der Wirklichkeit schon lange verschwunden waren. Nichts blieb von ihnen zurück außer den seltsamen Sepia-Fotografien, die in alten Alben oder in Kästen und Schubläden in irgendwelchen Antiquitätengeschäften aufgehoben wurden. Aber hier, wo ich mich jetzt befand, lebten sie und war Julias Leben noch nicht beendet und seit Langem vergessen: es lag noch vor ihr, wertvoll wie jedes andere auch. Das war der Schlüssel: Wenn ich es in meiner eigenen Zeit nicht ertragen und mitansehen kann, wie das Leben eines Mädchens, das ich mag, zerstört wird und ich es verhindern kann, dann konnte ich hier nicht anders handeln. Das wurde mir schließlich klar.
    Würde es denn zerstört werden? Ich dachte darüber nach. Die Kutsche bog am Union Square vom Broadway ab hinein in die 4th Avenue. Mit dem Ärmel wischte ich über die beschlagene Scheibe und sah unter leuchtenden gelben Kugeln das Theaterschild: Tony Pastor’s New 14th Street Theatre . Und auf den gemalten Plakaten an den Eingängen: Geduld oder die bühnenverrückte Jungfrau. Erleben Sie Miss Lillian Russel! Ein erstaunlicher Erfolg, ein künstlerisches Juwel. Ich war versucht anzuhalten und den Schluss des Stückes noch zu sehen, doch es gab zu viel, worüber ich nachdenken musste. Wenn ich Julia auch erst seit wenigen Stunden kannte, so war ich mir doch sicher, bereits einiges über sie zu wissen. Wenn man ein Porträt von jemandem anfertigt, dann lernt man dabei mehr über die Person als in den Tagen oder sogar Wochen einer beiläufigen Bekanntschaft. Mir hat immer die Geschichte des Psychiaters gefallen – man hatte ihn damals noch als Alienisten bezeichnet –, auf die man hin und wieder beim Lesen stößt, der vor einem Porträt von Sargent oder Whistler stand und es lange ansah. Es war das Porträt eines Mannes, der sein Patient gewesen war, und nachdem der Alienist es zwanzig Minuten lang ausgiebig betrachtet hatte, nickte er und sagte: »Nun verstehe ich, was bei ihm nicht gestimmt hat.« Nun, ich bin nicht Whistler oder Sargent, ich besitze weder ihr Talent noch ihr Einfühlungsvermögen. Aber um eine Person auf Papier oder Leinwand abzubilden, muss man mehr beobachten, als eine Kamera einfangen kann. Und ich wusste genau, dass sich das Gesicht einer bestimmten Person, die

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