Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Abend haben Sie uns etwas Neues zu erzählen?«
»Ja. Einige Tage, nachdem Carl bei mir gewesen war und wir darüber geredet hatten, überkam mich plötzlich eine Erinnerung, aber im ersten Augenblick konnte ich sie nicht genau benennen. Ich leite den Versand bei Vector drüben in Drexel, und wir mussten viele Überstunden machen; es gab viel zu verschicken. Aber letzten Sonntag hatte ich Zeit. Ich zog die oberste Schublade meiner Kommode heraus und stellte sie auf das Bett.« Er lächelte vertrauensvoll in die Runde. »Über meine Schublade machen sich bei mir zu Hause alle lustig, sie amüsieren sich darüber. Sie ist vollgestopft mit lauter Krimskrams; man bekommt sie kaum auf. Sie kennen das: alte Kinokarten, Quittungen von Dingen, die bereits seit Jahren nicht mehr funktionieren, Schnappschüsse, Bilder und Ausschnitte aus Zeitschriften, Uhren, die ich niemals mehr tragen werde, alte Brillengläser, nachdem mir neue verschrieben wurden. Mein Abschlussfoto von der Highschool. Und der Schwanz eines Waschbären, den ich in meiner Highschool-Zeit am Kühler befestigt hatte. Schnürsenkel, Stifte, die nicht mehr schreiben, Taschenbücher, Seifenstücke aus Motels, alte Taschenlampenbatterien. Alles Mögliche eben.
Ich leerte die Schublade auf dem Bett aus und begann, jedes Teil einzeln wieder einzuräumen. Eins nach dem anderen, bis ich auf das hier stieß.« Er öffnete die leicht geschlossene Faust und legte die Hand flach auf den Tisch. Um besser sehen zu können, was dort lag, waren die Anwesenden unter lautem Stuhlscharren aufgestanden. In seiner geöffneten Hand befand sich ein flaches, rundes Objekt, ein wenig größer als eine Halbdollarmünze; es war weiß, aus Plastik oder lackiertem Metall. In blauer Farbe waren die Porträts zweier Männer aufgedruckt, die sich gegenseitig anschauten. Der Mann links war ein vertrauensvoll lächelnder John F. Kennedy, der andere, ein ernst, fast finster dreinblickender Estes Kefauver. Über den Fotos stand in weißen Lettern auf einem roten Band, das der Krümmung des Buttons folgte: Eine gute Amtszeit. Und auf einem ähnlichen blauen Band am unteren Rand stand: Verdient fortgesetzt zu werden! Direkt unter den Fotos: Kennedy – Kefauver, ’64.
»Ein Wahlkampf-Button«, sagte jemand leise. »Ich werd’ verrückt«, ließ eine andere Stimme sich vernehmen. »Darf ich?«, fragte ein Dritter. Braunstein nickte, und der Button wanderte langsam von Hand zu Hand.
Wie gewöhnlich gab es Kaffee, den sie in einem zylinderförmigen Glasbehälter und einem Glasaufsatz mit Filterpapier zubereiteten. Sie standen und saßen um den Tisch herum, während sie aus Styroporbechern Kaffee schlürften; der Button machte immer noch die Runde, die Vorderseite mit den Fotos und der Aufschrift wurde genau inspiziert, die Rückseite mit der Anstecknadel vorsichtig betastet.
»Okay«, sagte der Vorsitzende schließlich, »machen wir weiter. Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Becher mit an Ihren Platz nehmen.« Als sie sich alle wieder gesetzt hatten, sagte er: »Mr. Braunstein hat noch eine kleine Autofahrt vor sich. Noch irgendwelche Fragen?«
»Ja, bitte«, sagte Audrey. »Mr. Braunstein, haben Sie jemals jemanden getroffen, der ebenfalls eine solche … Erfahrung gemacht hatte?«
Braunstein, der mit dem Vorsitzenden am Kopfende des Tisches stand, nickte. »Ja, einmal. Mit meinem Bruder zusammen. Er war Spieler in einem Softball-Team, und ich hatte ihn zu einem Spiel begleitet. Es gab dort einen Typen im Team, der eigentlich aus Chicago stammte. Mein Bruder bestand darauf, dass ich ihm meine Geschichte erzählte, und der Junge sagte daraufhin nur, er habe so was schon einmal gehört. In Chicago.«
Steve, der junge Mann mit dem dünnen blonden Haar, sagte: »Nun, stellte es sich als dasselbe heraus? Ich meine, Kefauver und Dirksen. Und der Parteitag in Atlanta?«
Braunstein schüttelte den Kopf. »Ich fragte ihn, er sagte aber, dass er es nicht genau wüsste oder sich nicht mehr erinnern könnte. Vielleicht wollte er mich auch nur ärgern — ›Was ist denn so faszinierend an deiner Geschichte? Ich habe sie schon einmal gehört!‹ Aber das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass er sie tatsächlich schon einmal gehört hatte.«
Sie bedankten sich bei ihrem Gast, und dann brach er auf, begleitet von Carl. Der Button blieb auf dem Tisch liegen. Gelegentlich nahm ihn jemand in die Hand und sah ihn sich genau an, während die Zusammenkunft fortgesetzt wurde. »Okay«, sagte der
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