Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
lange Briefe von ihr; woran sie sich erinnert, woran nicht. Und jeweils ein Brief von den anderen. Sie wollten nicht schreiben, aber ich bin ihnen so lange auf die Nerven gegangen, bis sie es doch getan haben.«
»Ich denke, Steve, dass wir das übergehen müssen. Es tut mir leid.«
»Ist schon okay.«
»Wir können mit vagen Erinnerungen und winzigen Erinnerungssplittern leider so wenig anfangen. Trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe.«
Von draußen näherten sich wieder eilige Schritte; zwei Männer stürzten herein, der Jüngere von ihnen – in einem weißen verknitterten Anzug – war lang und spindeldürr. »Es tut mir leid«, sagte er, »wir kommen zu spät, viel zu spät! Aber es gibt gute Gründe dafür.« Stolz nickte er seinem Begleiter zu, als sie zum Vorsitzenden traten, der sich erhoben hatte, um sie zu begrüßen. »Meine Schuld«, sagte der andere; er war etwa fünfundvierzig, hatte ein schmales Gesicht und trug eine blaue Windjacke aus Nylon über einem blütenweißen T-Shirt. »Ich musste lange arbeiten und kam erst spät zum Abendessen.«
»Das hier ist Lawrence Braunstein«, sagte der Jüngere an die Gruppe gewandt. »Larry für Sie«, sagte Braunstein. »Larry ist von Drexel herübergekommen«, fügte der Jüngere hinzu.
Die Teilnehmer standen auf oder lehnten sich über den Tisch, um Braunstein die Hand zu schütteln, vom anderen Ende des Tisches lächelten und winkten sie ihm zu. Er gefiel ihnen auf Anhieb; er wirkte sehr sympathisch, nickte freundlich und machte den Eindruck, als freue er sich aufrichtig, bei ihnen zu sein. Er war fast kahl, nur noch ein dünner brauner Haarkranz zierte seinen Kopf.
Jemand stellte ihm seinen Stuhl zur Verfügung; als er saß, sagte der Vorsitzende: »Larry, viele von uns kennen Ihre Geschichte, Carl hat bereits darüber gesprochen. Ich nehme aber an, dass Sie heute Abend noch etwas Neues für uns haben. Da aber nicht alle mit dem Hergang vertraut sind, eine Bitte: macht es Ihnen etwas aus, sie noch einmal zu erzählen? Von Anfang an?«
»Das mache ich gerne. Und, Leute, wenn ihr lachen wollt, dann lacht. Es macht mir nichts aus, ich bin daran gewöhnt.«
»Wir werden nicht lachen«, sagte der Vorsitzende.
»Gut.« Braunstein öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und lehnte sich bequem zurück. »Eigentlich gibt es da nicht viel zu erzählen; es geht nur darum, dass ich mich an die zweite Amtszeit von Kennedy erinnere.« Die Gruppe hörte ihm ruhig und konzentriert zu; einige hatten sich vorgebeugt, um ihn besser sehen zu können. »An vieles erinnere ich mich nicht, um die Wahrheit zu sagen. Ich gehe zwar zur Wahl, manchmal wenigstens. Aber ich kümmere mich nicht sonderlich um Politiker. Hab ich nie getan; wozu auch. Sie sind alle – nun, das wissen Sie so gut wie ich. Aber ich erinnere mich, wie er zum zweiten Mal antrat. Bekam ein wenig von dem Parteitag mit. Er war in Atlanta. Hörte einige der Reden während der Wahlkampfkampagne. Nicht viele.«
»Wer ist gegen ihn angetreten?«, fragte jemand.
»Dirksen – ist das nicht der Hammer? Ich erinnere mich an Kommentatoren, an Cronkite, der meinte, die Republikaner stellten Dirksen nur auf, weil er gegen Kennedy keine Chance habe. Und sie hatten vollkommen recht. Kennedy gewann in neunundvierzig Staaten und war im fünfzigsten, Illinois oder so, nahe dran. Und das war es dann. Ich sah Dirksen, der sich nicht einmal eine Stunde, nachdem die Wahllokale in Kalifornien geschlossen hatten, geschlagen gab. Und ich erinnere mich an das Hauptquartier Kennedys, das Mayflower Hotel in Washington, als er vor den Mikrofonen stand, lächelte, alle Leute wie verrückt schrien, seine Arme hob und seinen Leuten dankte – Sie kennen das; das ganze Zeug. Jackie war dabei, und ich glaube, auch seine Mutter. An Bobby oder Edward kann ich mich nicht erinnern.«
Einen Moment lang war es ganz still. Dann sagte einer der Anwesenden: »Ich weiß, dass Sie das bereits gefragt worden sind, aber erinnern Sie sich auch …«
»Dass er niemals eine zweite Amtszeit hatte? Ja sicher. Carl hat mich das als Allererstes gefragt, und natürlich weiß ich das so gut wie jedermann. Er wurde erschossen. In Dallas … 1963? Dann wurde Oswald erschossen.« Entschuldigend zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß, es ergibt keinen Sinn, aber – ich habe beide Erinnerungen; mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Erinnern Sie sich, wo Sie waren, als er erschossen wurde?«
»Nein.«
»Okay«, sagte der Vorsitzende. »Und heute
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