Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
weißer Tusche in der unteren Ecke der Fotografie. »Es zeigt die Main Street. Wie sie damals war, natürlich. Darunter das Kino, dessen Programmtafel zu erkennen ist. Ich werde das Foto gleich herumgehen lassen, zuerst möchte ich euch aber etwas vorlesen.« Sie griff zu ihrer Brille, setzte sie auf, beugte sich über die Fotografie und schob die Brille noch etwas höher auf die Nase, um die Schrift besser entziffern zu können. »Es heißt hier: ›Clark Gable und Mary Astor in Devil’s Judgement, Cartoons und Pathé News.‹«
Sie lehnte sich zurück, nahm die Brille wieder ab und reichte die Fotografie dem Mann neben ihr. »Ich habe hier in den Bibliotheken jedes Buch über alte Kinofilme durchforstet, in New York habe ich in diesem Sommer in der Main Library weiter recherchiert. Dieser Film ist nirgends aufgeführt. Ich habe dem Studio geschrieben, und als ich keine Antwort bekam, rief ich dort an. Schließlich wurde ich mit jemandem verbunden, der mir versprach, Nachforschungen anzustellen und mich dann zurückzurufen.
Zu meiner Überraschung tat er es auch. Einige Tage später rief er mich an. Sehr freundlich, er besaß eine nette Stimme. Über diesen Film hätten sie keine Aufzeichnungen, sagte er. Und – tja, das ist mein Beitrag.« Sie lehnte sich zurück und sah die anderen erwartungsvoll an.
»Sehr interessant«, sagte der Vorsitzende. »Aber wir müssen peinlich genau arbeiten. Filmlisten können unvollständig sein. Oder das Studio hat sich geirrt. Oder, so nett die Stimme des Mannes auch gewesen sein mag, vielleicht hat er nicht sorgfältig genug gesucht. Alte Filme, die nicht besonders populär waren, werden schnell vergessen. Und gehen verloren.«
»Aber ein Film mit Clark Gable?«
»Ich weiß, aber« – er hob bedauernd die Schultern – »wir müssen uns absolut sicher sein. Vielleicht wurde nur der Filmtitel geändert. Er wurde als Devil’s Judgement herausgegeben und lief dann aus irgendeinem Grund unter einem anderen Namen weiter. Ich glaube, so etwas kommt manchmal vor.«
»Okay.« Sie nahm ihr Bild wieder in Empfang, als es die Runde gemacht hatte. »Ich hatte sowieso vor, die Sache noch weiter zu verfolgen. Aber ich wollte es zu unserem Treffen heute mitbringen, damit Sie sehen können, dass ich in diesem Sommer nicht untätig gewesen bin.«
»Nun, es klingt jedenfalls gut. Bleiben Sie dran, und sehen Sie zu, dass Sie es wirklich wasserdicht machen können. Steve, haben Sie etwas für uns?«
»Ja. Hab den ganzen Sommer dafür gebraucht.« Er war erst fünfundzwanzig Jahre alt, doch sein dünnes blondes Haar zeigte auf dem Hinterkopf schon lichte Stellen. »Musste einen Haufen Briefe schreiben.« Mit dem Fingerknöchel klopfte er auf einen kleinen Papierstapel. »Soll ich sie vorlesen oder darüber berichten?«
»Berichten Sie uns lieber darüber. Können Sie für das nächste Mal die Briefe kopieren?«
»Klar. Ben Bendix hat mich auf das hier gebracht. Ihr erinnert euch an Ben? Er war in meiner Klasse. Besitzt genau wie ich einen Abschluss in Parapsychologie.«
»Natürlich«, sagte jemand. »Ich erinnere mich.«
»Nun, er ist mittlerweile verheiratet und lebt in Stockton, California. Er brachte mich mit dieser Familie zusammen. Sie heißen Weiss; Vater, Mutter, zwei erwachsene Töchter. Eine ist verheiratet, die andere geschieden und nun wieder in Stockton, wo sie bei ihrer Familie lebt. Nur – die geschiedene erinnert sich an eine weitere Schwester. Irgendwie.«
»Steve.« Der Vorsitzende schüttelte den Kopf. »Das irgendwie sagt mir nichts. Ist das eins dieser kleinen Erinnerungssplitter?«
»Vermutlich, ja.«
»Nun … fahren Sie fort.«
»Sie glaubt, die andere Schwester hieß Naomi. Oder Natalie. Sie ist sich nicht ganz sicher. Ein Jahr jünger als sie, vielleicht. Glaubt sich zu erinnern, dass sie zusammen gespielt haben, als sie etwa zwölf waren.«
»Sie sagt, es sei so, als ob sie versuchen würde, sich an einen Traum zu erinnern?«
»Ja, genau. Kleine Erinnerungsfragmente – der gemeinsame Schulweg. Das Essen mit der Familie. Solche Dinge. Und Sie kennen den Rest: niemand in der Familie erinnert sich an diese andere Schwester, es hat niemals eine andere Schwester gegeben. Die Tochter überprüfte sogar die Geburtsregister. Schließlich beschloss die Familie, dieses Thema in Zukunft auszuklammern, sie reden einfach nicht mehr darüber.«
Er berührte leicht den kleinen Stapel Briefe, der vor ihm lag. »Was ich hier habe, sind drei Briefe, drei sehr
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