Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
war – sah auf die Wanduhr: drei Minuten nach sieben. »Okay«, sagte er zu den etwa zehn Frauen und Männern, die sich um ihn versammelt hatten, »wir sollten nun anfangen.« Trotzdem drehte er sich noch ein letztes Mal um und warf einen Blick über seine Schulter auf die offene Tür. Aber niemand kam, auf dem Dielenboden draußen im Gang waren keine Schritte zu hören. Da wandte er sich wieder der Gruppe zu. Er war der Älteste von ihnen und Ordinarius – ein schlanker, jugendlicher Vierziger in Blue-jeans und einem bunt karierten Baumwollhemd. »Audrey, würden Sie beginnen?«
»Ja sicher.« Sie öffnete den Verschluss eines Umschlags aus Manilapapier, der auf dem Tisch neben ihrer Tasche lag, und zog eine doppelt gefaltete Zeitung so weit heraus, dass nur ein Teil des Namens zu erkennen war: w York Courier war zu lesen. Einige der Anwesenden lächelten über die vielleicht bewusst gewählte theatralische Geste. Sie waren alle leger gekleidet, saßen zwanglos um den Tisch herum und waren zwischen vierundzwanzig und vierzig Jahre alt. Sie befanden sich in der kleinen Bibliothek des Instituts für Chemie, einem freundlichen Raum mit Bücherregalen und gerahmten Sepia-Fotografien, die alte Laboratorien zeigten.
Es war ein früher Abend im September und noch immer hell; hier in Durham war es sogar noch warm. Jemand hatte die drei hohen Rundbogenfenster geöffnet; man hörte das Lärmen der Vögel in den Bäumen.
»Mein Informationsnetz besteht bislang nur aus vier Leuten«, sagte Audrey. Der gekrümmte Zeigefinger ihrer Hand, an der ein schlichter Ehering zu sehen war, berührte das Wort Courier. »Mein Schwager gehört dazu, und ehrlich gesagt habe ich nie angenommen, dass er jemals etwas finden würde. Aber er hat etwas gefunden. Ein Freund von ihm besitzt einen Laden für Bodenbeläge in Brooklyn, New York. Einer seiner Männer arbeitete dort in einem alten Haus, wo er den alten Linoleumboden einer Küche herausriss. Und darunter …«
Sie hielt inne: Von draußen waren schnelle Schritte zu hören. Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Aber nach einem kurzen Zögern entfernten sich die Schritte rasch wieder.
»Unter dem Linoleum war der Boden etwa einen Zentimeter dick mit alten Zeitungen bedeckt. Ich nehme an, um ihn zu dämpfen. Natürlich blätterte er in einigen der Zeitungen, las die alten Comics – man kennt das ja von sich selbst. Ich beneidete ihn. Sie waren alle wirklich alt, seit Jahrzehnten lagen sie dort. Diese hier hat er aufgehoben.« Sie zog nun die gefaltete Zeitung ganz aus dem Umschlag und reichte sie ihrem Nachbarn.
Er schlug sie auf und breitete sie ganz auf dem Tisch aus; die anderen drängten sich nach vorne, um auch einen Blick darauf werfen zu können. The New York Courier lautete der vollständige Name. Der Mann, der sie aufgeschlagen hatte, las nun laut die Schlagzeile vor. »›Präsident drängt auf Handelsaus…‹«
»Nein, nicht die Schlagzeile, das Datum.«
»Dienstag, 22. Februar 1916.«
Nach einer Weile sagte sie, leicht missmutig und enttäuscht. »Nun, sehen Sie es nicht? 1916 gab es keinen New York Courier. Die Zeitung wurde – ich habe das nachgeschlagen – am 8. Juni 1909 eingestellt.«
»Ach«, murmelte eine Frau ihr gegenüber. »Das sieht ja viel versprechend aus«, sagte jemand anderes. »Lassen Sie doch mal sehen«, und die Zeitung wurde weitergereicht.
»Ist es das, Audrey – das Datum?«, fragte der Vorsitzende.
»Ja.«
»Okay, nun, nicht schlecht. Halten Sie das fest. Auf unseren neuen Formularen – wir haben jetzt ganz neue. So langsam bekommen wir ein System in die Sache. Können wir die Zeitung behalten?«
»Ja, gerne.« Ihr Gesicht rötete sich vor Freude; mit eingezogenem Kopf nestelte sie verlegen am Verschluss ihres Umschlags und machte ihn wieder zu.
Eine Frau um die dreißig, klein, mit glattem, dunklem Haar, sagte: »Dick, ich muss nachher früher gehen; mein Babysitter kann nicht so lange bleiben. Kann ich weitermachen?«
»Aber ja, fangen Sie bitte an.«
Sie deutete auf die Aktenmappe, die vor ihr auf dem Tisch lag. »Das habe ich von meiner Tante in Newton, Kansas, bekommen. Die Stadtbibliothek hat eine kleine Geschichtsabteilung. Stadtgeschichte; die Einwohner versorgen sie mit alten Fotografien, Abzügen und so weiter. Eines der Fotos hat sie für mich kopiert.« Sie öffnete die Mappe und zog eine große, glänzende Schwarz-Weiß-Fotografie heraus. »Es wurde 1947 aufgenommen.« Sie wies auf das Datum, einen Schriftzug in
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