Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Krawatten. Einige wenige hatten schwarze Smokings mit grauen, gestreiften Hosen und steifen Kragen an. Andere hohe schimmernde Seidenhüte – Banker und Leute von der Wall Street, nahm ich an, die sich sofort in ihr Büro begeben würden. Mein Vater trug, wie die meisten jüngeren Männer auch, einen Filzhut.
Als diese ›gottähnlichen‹ Passagiere das Dock betraten, wurden sie bereits erwartet, sie wurden von Freunden und Verwandten umarmt und geküsst. Blumenbouquets wurden ihnen überreicht, und uniformierte Jungen händigten ihnen Telegramme und Kabel aus. Ein wenig abseits standen, abwartend und lächelnd, viele Dienstboten; die Frauen trugen nicht unbedingt Uniform, aber man konnte doch die Haus- von den Kindermädchen unterscheiden. Die Chauffeure, manche hielten zusammengelegte Decken bereit, trugen Livrés und spiegelblanke lederne Wickelgamaschen. Draußen, direkt vor dem Eingang zum Kai geparkt – wir waren an ihnen vorbeigegangen, als wir kamen –, warteten die Limousinen. Ich kannte jede Automobilmarke: Isotta-Fraschinis, Pierce-Arrows, ein Stutz-Roadster und so weiter.
Das große Gepäck dieser Leute kam auf Brettern mit einer Art Gleitrollen vom Schiff, schwitzende Männer in Fuhrmannskitteln hievten es zum Schluss herunter. Schwere Reisekisten, auf denen die Namen oder Initialen standen, gefolgt von den Namen der Städte: New York, Wien, Konstantinopel, London.
Erst nachdem die Erste-Klasse-Passagiere bis auf wenige Nachzügler den Pier verlassen hatten und zum Zoll gegangen waren, wurden für die Passagiere der zweiten und dritten Klasse und des Zwischendecks weitere Gangways herangeholt. Jetzt kamen sie an die Reihe, und ich erinnere mich nur noch, dass sie einfach uninteressant aussahen. Sie waren, wie ich beim Näherkommen erkennen konnte, gekleidet wie gewöhnliche Sterbliche, die man jeden Tag auf der Straße sehen konnte. Und sie unterhielten sich nicht — so, als stünde es ihnen nicht zu. Einige winkten wartenden Freunden zu, lächelten, riefen ihnen aber nichts zu. Für mich hatte alles schlagartig seinen Glanz verloren, es war … öde geworden. Diese Leute, davon bin ich überzeugt, kannten ihren Platz in der Gesellschaft. Ohne sich darüber zu beklagen. Und als der kleine Snob, der ich damals war, der ich allerdings nicht geblieben bin, hatte ich an ihnen überhaupt kein Interesse.
Dennoch wollte ich noch nicht gehen. Ich konnte nicht, obwohl mein Vater mich dazu drängte. Ich ging in Richtung Bug – marschierte einfach drauflos, blieb manchmal stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die riesige Fläche der schwarzen Platten zu betrachten, die zusammengenietet ein Schiff ergaben. An dieser Stelle des Docks waren nur wenige Menschen anzutreffen, und als ich ganz vorne am Schiff angekommen war, war ich plötzlich ganz alleine. Nur hoch über mir lehnten sich einige Offiziere in Schirmmützen über die Reling und schauten herunter. Ich wollte ihnen zuwinken, tat es aber nicht, da ich fürchtete, sie könnten meinen Gruß nicht erwidern.
Dann stand ich genau vor dem Bug des großen Schiffes, eine messerscharfe vertikale Linie, so wie sie Schiffe damals noch besaßen. Weit oben am Rumpf, vom Bug etwas nach hinten versetzt, waren die weißen Buchstaben angebracht, die den Namen dieses großen neuen Schiffes ergaben. Sie waren weit weg, diese weißen Buchstaben; aber ich konnte sie gut erkennen und ohne Schwierigkeiten lesen. Noch heute sehe ich sie klar vor mir, sieben große weiße Buchstaben, die absolut klar und deutlich vor mir stehen, und natürlich wissen Sie, wie sie lauteten: Deswegen sind Sie ja hier.«
»Ja, aber … sagen Sie es.«
»Die weißen Buchstaben hoch oben am schwarzen Rumpf dieses Schiffes lauteten Titanic, wie ich es mein ganzes Leben lang den Leuten erzählt habe. Das ist meine Geschichte. Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie ruhig, auch wenn ich überrascht wäre, wenn eine Frage dabei wäre, die ich noch nicht so häufig gehört habe.«
»Könnte es sich hier um einen … besonders lebhaften Traum handeln? Einen dieser Träume, die so real sind, dass sie zur Erinnerung realer Ereignisse werden.«
»Ein Traum? Könnte es ein Traum sein? Natürlich müssen Sie diese Frage stellen. Hier ist meine Antwort: Gelegentlich hatten auch Sie einen Traum – jeder kennt das –, der ungewöhnlich real war. Nichts Phantastisches. Und so blieb er in Ihrem Gedächtnis, klar und deutlich. Vielleicht werden Sie ihn nie vergessen.«
»Ja.«
»Aber auch
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