Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
um die dreißig, und obwohl ich im späten zwanzigsten Jahrhundert geboren wurde, lebe ich hier im neunzehnten und bin mit einer Frau verheiratet, lange bevor ich oder gar meine Eltern geboren wurden. Weil – nach Dr. E. E. Danziger, einem emeritierten Physikprofessor aus Harvard – Zeit ein Fluss ist. Sie trägt uns durch all ihre Windungen weiter, hinein in die Zukunft … aber die Vergangenheit existiert auch weiter – hinter den Flussschleifen und -biegungen. Wenn dem so ist, sagt Dr. Danziger, dann sollte es uns möglich sein, sie auch zu erreichen. Und er schaffte es, von der Regierung finanzielle Mittel zu erhalten, um es auszuprobieren.
Wir sind an die Gegenwart gebunden, sagte Dr. Danziger, durch zahllose Fäden – die zahllosen Dinge, welche die Gegenwart bilden: Automobile, Fernsehen, Flugzeuge, der Geschmack von Coca-Cola. Eine endlos lange Liste von winzigen Fäden, die uns an das Jetzt binden.
Seine Auffassung ist: Studiere die Vergangenheit, indem du dich mit alltäglichen kleinen Dingen beschäftigst. Lies Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, kleide dich und lebe nach der Mode jener Zeit, denke ihre Gedanken – all die Dinge, die das Damals ausmachten. Und suche einen Ort, der zu beiden Zeiten gleich und unverändert aussieht; ›Tore‹ nennt er solche Orte. Und lebe an diesem Ort, der auch in der Zeit schon existiert hat, die du zu erreichen versuchst, und schließlich werden die Bindungen, die dich an die Gegenwart fesseln, nachlassen. Dann lösche auch das Wissen um diese Bindungen durch Selbsthypnose. Und lass das Wissen von der Zeit, die du erreichen willst, in deine Seele fluten. Und hier – an diesem Durchgangsort, der zu beiden Zeiten existiert – kannst du vielleicht, könntest du den Übergang schaffen.
Den meisten gelang es nicht – dort, in dem Projekt, in dem wir ausgebildet wurden. Sie versuchten es, schafften es aber nicht. Aber mir, zusammen mit einer Handvoll anderen, gelang es. Ich trat in das neunzehnte Jahrhundert ein, kehrte zurück, um Bericht zu erstatten, und ging wieder zurück – um Julia zu heiraten und mein Leben im neunzehnten Jahrhundert zu verbringen.
An unserem Haus angekommen, ging Julia wie gewöhnlich vor mir die Stufen hoch und öffnete mir die Haustür; im Flur drehte sie das Licht an. Dann überreichte ich ihr Willy, da unser Hund – ein ziemlich großer wolliger schwarzer Hund mit weißen Flecken – um meine Füße herumtanzte und versuchte, mich zum Mitmachen zu bringen. Ich ließ ihn hinaus und setzte mich auf die Stufen, während er draußen umherlief, schnüffelte und prüfte, ob sich etwas verändert hatte. Er ist ein gutmütiger Kerl namens Rover, ein weitverbreiteter Name, über den sich die Leute in dieser Zeit noch nicht lustig machen. Große schwarze Hunde, fürchte ich, heißen oft Nig.
Rover kam zurück und setzte sich neben mich; ich kraulte ihn hinter den Ohren, was er erfreut zur Kenntnis nahm; seine Zunge hing heraus, ein Zeichen seiner Zustimmung. Wir hatten unsere kleinen Spielchen, Rover und ich, aber es war besser, wie ich hatte erfahren müssen, sie vor dem Haus zu treiben. Julia ist klug, von schneller Auffassungsgabe und so sensibel und empfindlich wie jeder andere Mensch auch. Eines Abends, als der alte Rover zu uns ins Wohnzimmer gewandert kam mit einem langen Speichelfaden an seinen schwarzen Lippen, schlug ich Julia vor, dass sie ihn mit einem Kuss aus seinem Bann erlösen sollte, er sei bestimmt ein verzauberter Prinz. Alles, was ich dafür bekam, war Ärger, denn natürlich war ihr Verständnis von Humor ganz dem des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet. Ein andermal, ziemlich am Anfang unserer Ehe, saßen wir lesend im Bett, als sie plötzlich laut auflachte und auf eine Stelle in der Zeitung deutete, die sie gerade gelesen hatte. Ich beugte mich zu ihr hinüber; ein Witz, ein Füllsel am Ende einer Spalte. Die kleinen Omnibusse auf dem Broadway und der 5th Avenue werden von manchen, in Anlehnung an die alten Postkutschen, als stage (= Bühne), von manchen aber auch als Bus bezeichnet. Und der Witz spielte darauf an: ›Glauben Sie nicht, dass ich ein gutes Gesicht für die Bühne habe?‹ fragte eine Lady mit Absichten aufs Theater. ›Mit der Bühne kenne ich mich nicht aus‹, erwiderte ihr galanter Begleiter, ›aber Sie haben ein wunderbares Gesicht für einen Bus.‹ Ich imitierte ein Kichern und nickte sehr schnell, um zu zeigen, dass ich die Pointe begriffen hatte. Genauso tat ich es bei einem
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