Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Rosedale musterte sie beifällig und mit Interesse. Er war ein plumper rosiger Mann, der Typ des blonden Juden, in eleganten Kleidern aus London …‹
Sie spürt, dass sie nicht sagen darf, dass sie soeben aus dem Apartment eines jungen Mannes kommt, und gibt daher vor, ihren Schneider besucht zu haben. Aber es stellt sich heraus, dass er weiß, dass es im gesamten Haus keinen Schneider gibt: er ist der Besitzer des Hauses; und es wohnen nur Studenten darin.
Sie ruft eine Droschke; auf ihrem Weg zum Bahnhof fragt sie sich: ›Warum muss eine Frau, wenn sie aus der alltäglichen Routine ausbricht, so teuer dafür bezahlen? Warum kann man nicht etwas ganz Natürliches tun, ohne es hinter einem großen Aufwand von Heuchelei zu verbergen‹ Sie ist ärgerlich auf sich selbst, denn: ›… es wäre so einfach gewesen, Rosedale einfach zu erzählen, dass sie mit Seiden Tee getrunken hatte! Die bloße Äußerung dieser Tatsache hätte sie bedeutungslos gemacht.‹ Auch hätte sie sein Angebot annehmen sollen, sie zum Bahnhof zu begleiten, denn ›dieses Zugeständnis hätte vielleicht sein Schweigen erkauft. Aufgrund seiner Herkunft hatte er eine besondere Gabe, Werte richtig einschätzen zu können, und in ihrer Begleitung gesehen zu werden, wie sie an dieser dicht bevölkerten Nachmittagsstunde den Bahnsteig entlanggingen, wäre blankes Geld in seinen Taschen gewesen, wie er es ausgedrückt hätte. Natürlich wusste er, dass in Bellomont ein großes Fest gegeben wurde, und die Möglichkeit, für einen von Mrs. Trenors Gästen gehalten zu werden, hatte er sicherlich in Betracht gezogen. Mr. Rosedale befand sich noch in der Phase des sozialen Aufstiegs, in der es von Wichtigkeit war, solche Eindrücke hervorzurufen.‹
Sagte mir das etwas über die Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze des Jahres 1912? Oder die Autorin, sagte sie mir etwas darüber? Ich war überzeugt davon.
Bücher, Zeitungen ohne Ende – bis mir eines späten Vormittages klar wurde, dass sie mir nicht viel mehr erzählen konnten, als ich schon wusste. Eine Weile dann Zeitschriften, später alte Filme, die an zwei Morgen in einem kleinen Kino des Museum of Modern Art für mich vorgeführt wurden; Rube hatte das arrangiert. Und ich schaute mir, bequem in einen Sessel zurückgelehnt, die alten Streifen an, die selten sehr scharf waren, manche Kopien von Kopien. Aber in diesen alten Filmen von 1909, 1910, 1911, 1912 und 1913 bewegten sich wirkliche Menschen. Ich sah eine längst aus dem Stadtbild verschwundene Straßenbahn einen seltsamen Broadway hinunterrollen, sah sie anhalten und dann Frauen vorsichtig die knöchellangen Kleider rafften, um abzusteigen. Ich sah trabende Pferde, Fußgänger, die die Straße überquerten, sah einen Mann ein paar Schritte machen — einen Boten, der auf seinem Botengang aus der Leinwand und aus dem Gedächtnis verschwand. In der stillen Dunkelheit musste ich mir in Erinnerung rufen, dass alles, was ich hier auf der Leinwand betrachtete, auch in Wirklichkeit geschehen war. Ich versuchte die fehlenden Geräusche und Farben hinzuzufügen: dieser Straßenbahnwagen war rot gewesen.
Stereoansichten im Museum der City of New York; die meisten davon waren scharf, klar und äußerst detailliert. Mit ihnen blickte ich über die Stadt – Panoramaaufnahmen von mehreren hohen Gebäuden, die die Stadt von 1912 der Länge nach überblickten – hin zum Central Park, zum Hafen oder zu einem der Flüsse. Und ich sah eine Stadt mit hohen, weiträumig verteilten Gebäuden, wenngleich sie nicht so hoch wie später waren. New York war noch offen und luftig, voll Licht und Luft. Auf manchen Ansichten sah man hier und da eine Dampf- oder Dunstwolke von den Dächern aufsteigen, und diese Momente – das Festhalten von Augenblicken – ließen die vergangene Stadt plötzlich lebendig erscheinen.
Rube rief mich zwei- oder dreimal an, spätnachmittags, wenn ich auf meinem Zimmer war. Das erste Mal schlug er mir ein gemeinsames Abendessen vor, das ich ablehnte; ich war gerade dabei, mich von unserer Zeit zu distanzieren, es war das Beste für mich, alleine zu sein. Einmal rief er mich morgens an, bevor ich zum Frühstück hinunterging, und wollte Angaben über meine Kleidergröße.
Eines Tages – es nieselte, und ich ging die Westseite der 5th Avenue entlang, um unter den Bäumen des Central Parks Schutz zu suchen, besuchte ich das Metropolitan Museum, das gerade eine neue Ausstellung eröffnete. Den ganzen Morgen über und auch
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