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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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später, nach dem Mittagessen im Museumsrestaurant, beschäftigte ich mich mit dem Inhalt der großen Glasvitrinen. Ich betrachtete die Kleidungsstücke, die aus den Jahren 1910 bis 1915 stammten. Hier, nur durch dünnes Glas von mir getrennt, wurden Dinge aufbewahrt, die der Lebenswelt dieser frühen Jahre angehörten – wirklich echte Fäden, Knöpfe, Gewebe von Kleidern; mattes Schimmern von Samt; hartes Glitzern von juwelenartigen Ornamenten; wirkliche Federn und echte Farben. Von Fotografien, Zeichnungen und den Filmen wusste ich bereits, welche Hüte die Frauen 1912 trugen. Aber nun waren sie wirklich hier. Fast Wagenräder, so breit wie die Schultern der Frauen: aus Stoff, geflochtenem Stroh, sogar aus Pelz; einfach oder mit kunstvoll gefaltetem Stoff verziert oder mit glitzernden Steinen, künstlichen Blumen oder Früchten bestückt. Hüte ohne Krempen, aber von riesigem Ausmaß, einer von ihnen mit richtigen Vogelschwingen an den Seiten. Der Hut der Dove Lady?
    Ich konnte mich an der Wirklichkeit dessen, was ich da vor mir sah, richtiggehend berauschen. Hier folgte eine Vitrine nach der anderen mit Kleidern, deren Stoff man beinahe zwischen den Fingern spüren konnte. Hier das blaue Serge-Kleid, das einmal von einem wirklichen Mädchen getragen worden war, genauso wie es jetzt da hing. Daneben ein Umhang einer Abendgarderobe – er hatte sicherlich einst seine Besitzerin durch das Foyer eines New Yorker Theaters begleitet – aus pfirsichfarbener Seide mit weißem Pelzbesatz; es fiel mir nicht schwer, ihn mir vorzustellen, wie er durch das Stimmengewirr der dichten Menge eines Foyers wandelte. Die hochhackigen weißen Schuhe unter dem Pelzsaum dieses Umhangs sahen auf den ersten Blick aus wie moderne Schuhe; aber irgendwie unterschieden sie sich doch von ihnen: die Absätze waren – nun, irgendwie ungewöhnlich. Und die Anzüge der Männer – die linke Schulter eines Exponats berührte fast das Glas, ich konnte die feinen Noppen des Tweed-Stoffs erkennen – sie glichen den heutigen, nein, sie waren anders, unmerklich anders … Die Hosenaufschläge waren schmaler, das Revers … anders, kleiner, glaube ich. Und der Stoff schien dicker, schwerer, und es gab mehr Brauntöne, als ich erwartet hatte. Und die Herrenhüte: die Krempen der Filzhüte breiter, aber das war nicht alles. Ich konnte die anderen Unterschiede nicht benennen, obwohl ich sie sehen konnte. Hin und wieder trug ich ebenfalls eine Melone, wenn ich mit Julia ausging, aber diese Melonen in den Glasvitrinen waren anders. Und es gab viele Kappen und Mützen.
    Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag noch in Betrachtung dieser alten Kleidungsstücke und dachte lange über sie nach. Auch den nächsten Tag und den darauffolgenden Morgen verbrachte ich bei den ausgestellten Stücken und tat, was Martin Lastvogel mich in der Schule des Projekts gelehrt hatte: ich schaute mir die Kleider, Mäntel, Schuhe und Schirme, die Hüte, Kappen, Umhänge, Anzüge und Norfolk-Jacken, die Schuhe, Stiefel und Galoschen so lange und oft an, bis … sie schließlich ihre Fremdartigkeit verloren hatten. Es war Arbeit: Andere Besucher kamen, gaben ihre Kommentare ab und gingen wieder, ich aber schlenderte die Gänge zwischen den Vitrinen auf und ab, blieb stehen und versuchte mir diese Dinge auf den Straßen der Stadt vorzustellen. Arbeitete daran, sie auf einem Bürgersteig vorbeigehen zu sehen, arbeitete daran, sie nicht hier in der Ausstellung, sondern im wirklichen Leben zu sehen … bis sie, während des dritten Tages, nichts Fremdes mehr waren, sondern zum alltäglichen Leben dazugehörten. Und als ich die Treppe des Museums hinunterging, hinaus in das moderne New York … wusste ich, dass ich ihr näher gekommen war, dass ich sie wirklich um mich herum spüren konnte, hinter und unter dem, was ich tatsächlich sah – die Wirklichkeit von Albert Einsteins gleichzeitig existierender Vergangenheit, das New York des noch jungen zwanzigsten Jahrhunderts; es war nun greifbar nahe.

13
    Eines Tages, als ich in meinem Zimmer in einer Ausgabe des American Boy vom Januar 1912 blätterte, überkam mich unvermittelt die Gewissheit, dass ich genügend vorbereitet war. Ich saß in einem großen Polstersessel nahe am Fenster, damit das Nachmittagslicht voll auf die Seiten fallen konnte, und trug Jeans und ein einfaches Baumwollhemd. Ich erkannte, dass ich nun meine Vorarbeiten abgeschlossen hatte. Zwar wusste ich noch längst nicht alles über das New York des

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