Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
einen ›Mops‹. Und als ich am späten Nachmittag auf meinem Nachhauseweg in der Lexika-Abteilung vorbeischaute und in der Encyclopaedia Britannica von 1911 unter dem Stichwort Hund nachschaute, fand ich Fotografien dieser drei Rassen, die ganz anders aussahen als heute. Ich schritt die Stufen der Bibliothek zur 5th Avenue hinab, überlegte mir, wo ich essen wollte, und hatte die erste, noch schwache Vorstellung davon – ich wusste nun, was am Ende einer Hundeleine zu sehen war –, wie die Bürgersteige im New York von 1912 ausgesehen haben konnten.
Jeden Tag in dieser Woche, den ganzen Tag mit Ausnahme des Mittagessens und ein oder zwei Kaffeepausen, las ich – und versuchte, nicht an zu Hause zu denken – die Times, den Herald, die World, das Telegram, den Express. Von 1909 … 1910 … 1911, ’12 und ’13. Und fand Geschichten, die ich hätte überspringen können, wozu mir aber die Willenskraft fehlte. So erfuhr ich, dass Thomas Edison soeben eine Methode erfunden hatte, aus Beton Möbel herzustellen. Inklusive Fonografen. Mit einem Foto eines Exemplars, das ich ganz gut fand. Mir wurde auf einmal bewusst, wie oft Musiknoten angeboten wurden, und wie oft für Pianos Werbung gemacht wurde. Es schien so, als ob diese Menschen noch ihre eigene Musik machten.
Ein kurzer Bericht über einen Unfall, bei dem ›an der Houston Street und 2nd Avenue eine Pferdetram der 2nd Avenue und ein Pferdewagen zusammenstießen‹, zeigte mir, dass das neunzehnte Jahrhundert, in dem Julia und ich lebten, mit den Anfängen des zwanzigsten kollidierte.
Der Zug der Pennsylvania Railroad nach Cleveland führte einen Bibliothekswagen mit sich. Anzeigen für Bürobedarf mit der Darstellung neuer Rolltische halfen mir, einen Blick in ein Büro von 1912 zu tun. Ein Inserat, das überschrieben war mit ›Ein Anbau-Aktenschrank ist ein wirkliches multum in parvo für das private Büro …‹, zeugte davon, dass die Werbetreibenden darauf zählen konnten, dass 1912 Geschäftsleute noch Latein verstanden. Eine mittlerweile verschwundene Schulausbildung glomm hier auf, die graduierten Absolventen Geografie, Arithmetik, Rechtschreibung, Amerikanische Geschichte, ein wenig Latein und vielleicht sogar etwas Griechisch vermittelte.
Ich entdeckte, dass die Brooklyn Rapid Transit im Jahre 1912 glaubte, ihre Passagiere erziehen zu können, denn sie brachte regelmäßig Anzeigen, die aufzählten, was die Fahrgäste zurückgelassen hatten. Was mir Einblick in leere Hochbahn- und Straßenbahnwagen verschaffte, in denen ›Augengläser, kleine gerollte Notenblätter, Koffer, Textilien, Babyfläschchen, Melonen, seidene Handtaschen‹ gefunden wurden. Die Passagiere vergaßen ihre ›Akten, Muffs, Herrenmäntel, Taschenbücher, Geldbörsen, Bücher, Messer …‹ Und ich fragte mich, warum so ausdauernd für Sekt geworben wurde. War er das Coca-Cola von 1912? Der gesamte Februar 1912, entnahm ich den Wetterberichten, war ›ungewöhnlich mild; fast frühlingshaft oder sommerlich, außergewöhnlich für New York‹.
Zeitungen, Zeitschriften, sogar Handelsmagazine. Nach einiger Zeit wurde ich ihrer und der Bibliothek müde und nahm Bücher mit nach Hause. Mit dem Aufzug hoch in mein Zimmer, und unter dem Arm A Girl of the Limberlost von Gene Stratton-Porter … Cap’n Warren’s Wards von Joseph C. Lincoln … Truxton King: A Story of Granstark von George Barr McCutcheon … The House of Mirth von Edith Wharton … Alle mit farbigen Illustrationen auf dem Cover.
Und dann – morgens, nach dem Frühstück in dem Sessel in meinem Zimmer, auf einer Bank im Central Park, wenn die Nachmittage warm waren, oder in meinem Bett sitzend, neben einer Lampe, die so gestellt war, dass das Licht direkt auf das Buch fiel – las ich Dinge wie diese:
›Er war ein großer, knochiger junger Mann mit einem derart von Wind und Sonne gebräunten Gesicht, dass man den Eindruck hatte, seine Haut müsse sich wie Leder anfühlen, wenn man nur die Unverfrorenheit aufbrächte, dies durch eine leichte Berührung selbst in Erfahrung zu bringen. ‹ Und weiter unten auf der Seite: ›Dieser große junge Mann mit Panama-Hut und grauem Flanellanzug war Truxton King, der Globetrotter auf der Suche nach leidenschaftlichen Romanzen. Irgendwo oben in der Nähe des Central Park, in einer der noblen Seitenstraßen, stand das Haus seines Vaters und des Vaters seines Vaters: sein Heim, das Truxton seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte.‹
Wo war er bloß gewesen?
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