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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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versuchte auch nicht, mich dazu zu zwingen. Ich starrte einfach auf meine Schuhe. Beim Projekt wurden wir in Selbsthypnose unterrichtet, die, so glaubte Danziger, notwendig war, um die Milliarden von winzigen ›mentalen Fäden‹, wie er sie nannte, zu durchtrennen, die Geist und Bewusstsein an die Gegenwart binden. Tatsächlich sind es die zahllosen täglichen Kleinigkeiten, die unnennbar vielen großen und kleinen Tatsachen, die Wahrheiten, Illusionen und Gedanken, die für uns das bedeuten, was wir als das Jetzt empfinden.
    Aber seit einiger Zeit wusste ich, dass ich keine Hypnose mehr brauchte. Ich tat – nun, was war es, das ich tat? Ich hatte die beinahe unbeschreibliche Fertigkeit gelernt, diesen enormen Fundus an Wissen, der die Gegenwart bildet  … in meinem Geiste ruhen zu lassen. Saß einfach tief in diesem Park und wartete – so, wie ich es gelernt hatte — und spürte, wie ich gelassen und alles um mich herum ruhig wurde. Ich saß da, die Ellbogen bequem auf die Rückenlehne gelegt, und beobachtete die ersten Anzeichen des Abends, die sich auf dem Boden zeigten, während der Himmel noch vom Licht des Nachmittags erfüllt war –, und versetzte mich in eine Art Trance. Aber noch hörte ich die Gegenwart, die um mich herum war, hörte eine Taxihupe, hörte das hohe und weit entfernte Brummen eines Düsenflugzeugs.
    Dann nichts mehr; ich saß da und ließ Eindrücke und Gedanken an ein früheres New York an mir vorbeiziehen; das New York von 1912. Ich war mir der einfachen Tatsache bewusst, dass das Jahr 1912 um mich herum wirklich existierte und gefunden werden konnte. Drängte mich zu nichts. Wartete nur, bis ich es mit aller Macht spürte.
    Ich betrachtete den Himmel, sah, wie die Baumwipfel sich verdunkelten, wie sich der hohe blaue Himmel gegen Abend zu schwärzte. Ein alter Begriff schob sich in mein Gedächtnis, den ich leise murmelnd aussprach – ›l’heure bleu‹, die blaue Stunde. Noch nie zuvor hatte ich das erlebt, aber nun nahmen der Himmel und selbst die Luft ein wunderbares, eindringliches Blau an. Und mit der blauen Dämmerung kam, fremdartig und bewegend, eine Art angenehme Melancholie. Für mich zumindest bedeutete diese blaue Stunde das erregende, bitter-süße Wissen, dass überall in dieser Stadt von 1912 hinter den hohen Fenstern die Lichter angezündet würden und die Städter sich darauf vorbereiteten, zu dieser blauen Stunde sich an besonderen Orten zu versammeln. L’heure bleu: nicht überall, nicht immer. An vielen Orten geschah es niemals. Aber nun spürte ich an diesem auf Manhattan hereinbrechenden Abend ihre machtvolle Gegenwart, eine ergreifende Freude und ein Versprechen, das nur hier und nur jetzt und vielleicht noch in den darauffolgenden Augenblicken in Erfüllung gehen würde. Überall um mich herum, nahe bei, vor mir, ich musste nur aufstehen und durch die kühle blaue Dämmerung in sie eintreten.
    Ich beeilte mich nicht; ich erhob mich und setzte mich langsam in Bewegung, folgte den Wegbiegungen und ging in Richtung der 5th Avenue und der 59th Street. Bevor ich sie jedoch erreichte, hörte ich ein Geräusch, das für mich immer mit der blauen Stunde verbunden sein wird. Ein fröhlicher blecherner Ton, kein elektronischer – meine Ohren konnten das sehr wohl unterscheiden –, ein Ton, der durch das Zusammendrücken des dicken Gummiballons einer Hupe erzeugt wurde. Sie quäkte wie eine Trompetenfanfare und dann gleich noch einmal. Ich lächelte und begann mich zu beeilen.
    Ich war nicht überrascht, als ich nach der letzten Wegbiegung plötzlich vor dem Himmel der blauen Stunde das Plaza als einziges hohes Gebäude vor mir stehen sah. War nicht überrascht, als ich auf die 5th Avenue hinaustrat und sie als schmale Straße vor mir lag. Ebenso, als ich weiter zur 59th Street ging und alle Ampeln verschwunden waren. Ich blieb an der Bordsteinkante stehen und sah die großen geräumigen Taxis – die Passagiersitze in einer Kabine, während die Fahrer alleine draußen unter einer kleinen Überdachung saßen –, die am Eingang zum Plaza entlang der 59th Street geparkt waren. Es irritierte mich, als ich über die Straße schaute und bemerkte, dass der Brunnen vor dem Hotel noch nicht existierte. Aber zu meiner Linken, direkt gegenüber, saß in der blauen Abenddämmerung General Sherman unverändert auf seinem großen Bronzepferd.
    Das Hotel hat sich auch nicht verändert, dachte ich; meine Augen glitten über die Fassade – der einzige Unterschied war,

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