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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Montagmorgen, setzte ich mich an einen der alten Holztische im Zeitschriftensaal der New Yorker Public Library und begann danach zu suchen. Ich fühlte mich wohl, trug neue Bluejeans und einen grauen Rollkragenpullover und ließ meine Augen über die Titelseite einer Zeitung wandern. In der oberen rechten Ecke war nicht 50 Cents gedruckt, sondern Ein Cent, sie stammte vom 12. Januar 1912. Die Titelzeile allerdings war identisch mit der Zeitung, die ich zu meinem Frühstück las: The New York Times  – dieselben vertrauten gotischen Buchstaben. Ebenso der kleine Kasten, in dem stand: ›Alle Neuigkeiten, die es wert sind, gedruckt zu werden.‹
    Genauso waren die Nachrichten auch. Politisches Chaos gefährdet Frankreich lautete eine Schlagzeile der ersten Seite, die ich leichten Herzens überspringen konnte. Betagter Kaufmann überfallen lautete eine andere, und ich las, dass ›vier Männer gestern aus einem Hauseingang in der Water Street sprangen‹ und ›George Abeel, einen Eisenhändler, angriffen. ‹ ›Drei der vier Männer würgten ihn, während der vierte die Taschen des Zweiundsiebzigjährigen durchsuchte, ihm seine einhundertfünfzig Dollar teure goldene Uhr und fünfzig Dollar in Bargeld abnahm. Dann schlugen sie den alten Mann auf den Kopf und in das Gesicht …‹ So, so.
    Ich las, dass Andrew Carnegie ein Kongresskomitee bei seiner Arbeit behindere. Er konnte nichts Falsches darin erkennen, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einen der Anwälte seiner Stahlgesellschaft als Außenminister zu empfehlen. Meinte, dass ›seine persönlichen Beiträge zu diversen Wahlkampffonds der Republikaner‹ nicht das Geringste mit den angeblichen Verletzungen des ›Sherman-Antitrust-Gesetzes‹ durch die U.S. Steel Corporation zu tun hätten. Schien tatsächlich nicht zu verstehen, was dieses Antitrust-Gesetz beinhaltete. Leugnete, dass er Chef der Gesellschaft wäre: er sei nur ein Aktionär, der zufälligerweise achtundfünfzig Prozent der Aktien halte. Wusste nicht einmal, was seine Anwälte taten oder welche Aufgaben ihnen übertragen waren. Auf der Kommentarseite waren folgende Verse zu finden:
    Gefragt nach Alter
Oder Namen
Oder Ansichten
    Im Leben.
    Oder ›Wo wohnen Sie?‹
    Oder ›Wie geht’s?‹
    Oder ›Sind Sie verheiratet?‹
    Oder ›Sagen Sie mir doch gleich
Wie viel ist zwei plus zwei?‹
    Dann antworten Sie nicht.
Singen Sie einfach:
›Ich bin völlig,
so völlig und regelrecht
glücklich und dumm.‹ Oho.
    Jack Dorman hatte letzte Nacht Young Cashman herausgeklopft, ein prominentes Ehepaar ließ sich scheiden, und die Wall Street war ›schockiert‹ über einen Börsenskandal. Nochmals Oho. War es 1912 etwa genauso wie heute? Das gibt’s doch nicht. Die Nachrichten, die die Menschen produzieren, die Dinge, die sie tun, hatte Dr. Danziger mich einst gelehrt, bleiben zu allen Zeiten im Grunde die gleichen. Aber wie sie denken, fühlen, was sie glauben … ist zu jeder Zeit anders. Also machte ich mich auf die Jagd nach den Menschen von 1912 – zwischen den Zeilen der alltäglichen Neuigkeiten.
    Und fand sie auch. Ein erster Hinweis auf die Gefühle und Gedanken der Menschen zeigte sich in einer Saks-Anzeige, die überschrieben war mit Vorsätze für Sie und uns. Darunter war eine lange Liste mit Sprüchen wie Folgenden aufgeführt: ›Misserfolge mit Mut, Erfolge mit Demut tragen  … Weniger jammern und etwas mehr arbeiten … Klein im Reden, aber groß im Denken … Immer sich daran erinnern, dass das Echo jeder Handlung auf den Handelnden zurückfällt.‹ Und so weiter und so weiter, eine lange Liste, die in unseren Augen beinahe unerträglich trivial erscheint; darunter die Signatur Saks.
    Und dennoch, dachte ich, ein Texter in einer der ersten Werbeagenturen und eine Geschäftsfirma, die für diese Anzeige zahlte, mussten schließlich gewusst haben, wie sie ihre New Yorker Mitbürger erreichten. Also – ein erster Hinweis? – war diese Anzeige für Leute gemacht, die ambitioniert waren, voller Hoffnung, fröhlich, optimistisch? Sicherlich nicht zynisch.
    So begann ich, in dieser und vielen anderen Zeitungen Ausschau zu halten nach dem, was mir die Menschen von 1912 über sich erzählen konnten. Verbrechen, Scheidungen, Meineide überging ich und las die Anzeigentexte und erfuhr, dass drei Menschen in diesem Jahr ihre Hunde verloren hatten, deren Namen Tammany, Sport und Bubbles waren; es handelte sich um eine ›französische Bulldogge‹, einen ›Schipperke‹ und

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