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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Mrs. Coffyn und Harriet Quimby – sie war wirklich schön –, die lächelten und winkten. Als ich wieder nach vorne schaute, schien es gar nicht mehr so schrecklich zu sein.
    Nichts von dem, was ich beim Abheben der Maschine meiner Erfahrung entsprechend erwartet hatte, traf ein. Keine Hunderte von Tonnen heulenden Metalls, die brutal durch ein dünn gewordenes unbekanntes Nichts brausten. Das hier war etwas anderes: Sonnenstrahlen lagen auf meinem Gesicht, die weiche Wärme dieses seltsamen Frühlings 1912 umfing meine Stirn: ich spürte, wie die Luft uns trug.
    Die Maschine knatterte, der Propeller drehte sich, ich hörte ihn, doch war er keineswegs laut. Wir saßen vor ihm, und wahrscheinlich wurde der größte Teil des Lärms nach hinten weggetragen. Als wir so über den Hudson flogen und langsam hochstiegen, schenkte ich Frank ein kleines Lächeln.
    Und machte einen Fehler: als ich meinen Kopf nach hinten drehte, fiel mein Blick nach unten; schnell schaute ich nach oben, und alles war wieder in Ordnung.
    Frank zog nun seine Kreise: weite, gemächliche Kreise, die uns höher und höher führten. Während wir uns langsam nach oben schraubten, blieb Frank über dem Wasser, das uns im Notfall auch ohne Motor würde auffangen können. Ich sah die langen Anhöhen der Küste von Jersey, die sich grün und fast ländlich vor uns erstreckten. Dann den Hafen und die schwarzbraunen Finger der West-Side-Docks von Manhattan, die langsam hinter uns zurückblieben. Ich erhaschte einen Blick auf die winzige St. Louis und zwei noch kleinere Schiffe, die die Lotsen an das Dock der American-Linie bugsierten. Sah die weißen Dreiecke eines Segelboots, einen Schlepper, zwei kleine rote Fähren, die sich durch das Wasser kämpften … dann, weit hinter uns, Ellis Island … die Freiheitsstatue, die seit dem letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, grün geworden war; die Fackel drehte sich langsam, als sie hinter uns zurückfiel. »Ich habe die Statue letzte Woche umflogen«, sagte Frank, »mit einem Kameramann. Saß genau da, wo Sie nun sitzen. Er machte Filmaufnahmen von der Krone und der Fackel, während in der Krone wiederum ein anderer von uns Aufnahmen machte!« Ich grinste, nickte und wünschte, diese Filme zu sehen; ob sie bis zum anderen Ende des Jahrhunderts erhalten bleiben würden?
    Ich fühlte mich jetzt wohl; diese raubvogelhaften Kreise eröffneten mir allmählich den Blick auf den gesamten Hafen. Weit hinter uns lag nun der grüne Fleck des Battery Parks, der mit den Farben der Kleider und Anzüge gesprenkelt war – sie beobachteten uns!
    »Nahm einen Kameramann mit, um die Bürogebäude an der Spitze der Insel zu filmen. Flog auf gleicher Höhe der obersten Fensterreihe; die Bürohengste drängten sich an die Fenster, beobachteten uns und winkten uns zu. Dann, genau über dem East River, lösten sich die Befestigungsschrauben, und die Kamera fiel hinunter. Und da liegt sie nun, irgendwo da unten im Fluss.«
    Schließlich drehten wir nach Norden ab – wie hoch mochten wir sein? Sechshundert Meter? Neunhundert? Ich hatte keine Ahnung – und flogen auf die Stadt zu. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer, was an diesem leicht dunstigen Morgen vor mir lag: die Stadt dieses neuen Jahrhunderts, die Stadt zwischen den beiden anderen New Yorks, die ich bereits kannte – und sie schien schön zu sein.
    In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts bin ich zwar nicht über New York geflogen, aber ich kenne Luftaufnahmen – die erstaunlichen Ansichten, vor allem die schimmernden, unwirklichen Bilder des nächtlichen New York. Die hohen, unglaublich hohen, immer höher werdenden Gebäude, die im Stadtzentrum so dicht beieinanderstehen, dass die Fotografen keine Straßen oder Menschen mehr aufnehmen konnten; nur Mauern und Fassaden, hinter denen die Stadt verschwindet.
    Das war hier nicht, noch nicht, der Fall. Die lange, schlanke, von Karten bekannte Gestalt Manhattans lag unter uns, die kleinen, sich rechtwinklig schneidenden Straßen waren voller Leben. Ich begann zu suchen … wonach? Nach einer Art Steinschiff, das war alles, was ich mir vorstellen konnte, ein nicht vorstellbares Schiff aus Stein mit Fenstern. Hier und da standen vereinzelt die schmalen nach oben weisenden Finger der ›Wolkenkratzer‹ New Yorks; sie waren leicht zu erkennen. So, als ob ich eine vertraute Karte las, wanderte mein Blick von dem großen grünen Rechteck des Central Parks nach unten, folgte dem Verlauf des Upper Broadway –

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