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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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können. Er braucht viel Geduld und Besonnenheit. All das, Si. Aber andererseits, wenn er in sein Flugzeug steigt und alleine dem Ozean gegenübersteht, dann muss er auch ein wenig wild, unbekümmert und verwegen sein.«

19

    Eine nach der Mode der Gibson Girls frisierte junge Frau gab mir für die beiden Karten von The Greyhound das Programmheft, das Sie hier sehen. Sie trug ein graues Uniformkleid, einen großen weißen Kragen mit einer breiten Krawatte und einem Schildchen, das sie als Platzanweiserin auswies. Sie führte uns – das Jotta Girl und mich – zu unseren Plätzen rechts vom Gang. Als ein zwölfjähriger Junge in roter Hotelpagen-uniform mit Messingknöpfen vorbeikam, der lange schmale Schachteln mit Schokoladen-Minz-Pastillen verkaufte, erstand ich eine.

    Ich schaute mich um: Gerade betraten mehrere Leute auf einmal den Zuschauerraum und drängten sich durch die Reihen. Z würde auch hier sein, war vielleicht schon hier; vielleicht lag mein Blick gerade auf ihm. Die schönen Frauen nahmen ihre enormen Hüte ab – vorsichtig, mit beiden Händen, und man sah ihre kunstvollen Frisuren. Das Jotta Girl war ähnlich gekleidet. Sie trug ein langes, hochgeschlossenes, pastellfarbenes Kleid und einen rosaroten Hut, der nicht ganz drei Meter Durchmesser hatte. Die Männer hatten steife Kragen umgebunden, kurze Haare, meist in der Mitte gescheitelt, einige von ihnen waren mit Kneifer ausgerüstet. Trug Z einen Kneifer? Ich glaubte es nicht, es konnte jedoch möglich sein.
    Vor uns der hohe, schwere rote Vorhang mit sicherlich dreißig Zentimeter langen goldenen Fransen; die tiefen Falten des Samts lagen im Halbdunkel des Rampenlichts verborgen. Gab es hier jemanden, der nicht gespannt war, in diesen letzten Minuten, bis sich der Vorhang vor dem noch Unbekannten, dem Wunderbaren hob? Dennoch, erinnerte ich mich, würden in den nachfolgenden Jahren Theatervorhänge verschwinden; die Zuschauer würden auf eine leere Bühne starren, die ernüchternd wirkte und Illusionen gar nicht erst aufkommen lassen würde.
    Neben mir las das Jotta Girl das Programm; ich blickte in mein Heft, zählte dann und sagte: »Oho, sechsundzwanzig Schauspieler?«, aber sie schien nicht beeindruckt zu sein und sagte nichts. Ich war jedenfalls beeindruckt und erfreut. Ich hatte Aufführungen mit nur einem Bühnenbild satt, genauso wie Stücke mit nur zwei Schauspielern.
    Dann sprach ich ein wenig über Wilson Mizner, einen der Autoren des Stücks, der auch so etwas wie ein Gauner und Betrüger war. Sie schien interessiert zu sein, was mich freute. Es war schön, dass sie mitgekommen war. Ich mochte das Jotta Girl; mochte Leute, die Wilson Mizner mochten. Er war oben am Yukon gewesen, während des Goldrausches in den Neunzigern, aber nicht draußen in der Kälte und im Schnee, sondern drinnen beim Pokerspiel mit den Goldsuchern; und meistens hatte er gewonnen. Eines Tages spielte er dort in einem Saloon Karten, dem ein Bordell angeschlossen war, als ein Mann hereinstürmte und sagte: »Jemand hat Goldie beleidigt!« Und Mizner, der die Karten mischte, meinte nur: »In Gottes Namen, wie?«
    Der Augenblick kam: Die Lichter gingen langsam aus … verweilten noch ein wenig … flackerten und erloschen dann ganz; das Theater war plötzlich dunkel bis auf die kleinen Gaslampen hinter den roten Ausgangsschildern. Dann – ich finde es immer wieder aufs Neue aufregend – hob sich schnell der Vorhang, und dahinter zeigte sich, nach Angaben meines Programms, ›eine Pension in San Francisco‹. Wir sahen ein karg eingerichtetes Schlafzimmer: ein Fenster, eine Kommode, ein eisernes Bett. Davor stand Ying Lee und schüttelte gerade die Kissen auf.
    Nun, was gibt es über Ying Lee zu sagen? Außer, dass ich hier in einem Theater von 1912 saß und Ying Lee deswegen kein ›Chinese‹, sondern ein ›Chinamann‹ war? Übrigens zu erkennen an seinen Augen, die mit einem Band zu Schlitzen umgewandelt worden waren, der gelb gefärbten Haut und der schwarzen Stoffsandalen, die er trug. Ein Zopf hing ihm bis auf die Hüften hinab. In dem Augenblick, in dem man sehen konnte, wie er schlampig das Bett machte, reagierte das Publikum zwar noch nicht mit Gelächter – er tat noch nichts Komisches –, aber mit einem Murmeln, das einem Gelächter vorausging … denn, nun, er war ein richtiger ›Chinamann‹.
    »Ying!«, rief ihn eine Frauenstimme hinter der Bühne; Ying blickte auf, sein Gesicht war ausdruckslos, er antwortete nicht. Er ließ das

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