Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
für die Armen zu veranstalten.« Sie wies lächelnd mit ausgestreckter Hand auf die Schlange der Männer, die sie beobachteten. »Ich will jedem hier etwas geben! Sie sehen also«, erklärte sie dem Polizisten, »ich benötige Ihre Hilfe. Denn ich fürchte, dass einige sonst nicht warten werden, bis sie an der Reihe sind.«
Ich erkannte diese Dame; ich hatte sie in der sonntäglichen Comic-Seite gesehen, neben ›Bringing Up Father‹, ›Peter Dink‹, ›Doc Yak‹ und ›Der Captain und Der Kids‹. Sie war eine richtige ›Lady Bountiful‹, eine besondere Type ihrer Zeit, dachte ich bei mir. ›Lady Bountiful‹ existierte hier wirklich und war von sich und ihren Wohltaten überzeugt – und der Polizist wusste das. »Ja, Ma’am«, antwortete er schnell. »Wenn Sie hier warten wollen, dann schicke ich sie zwei und zwei zu Ihnen herüber. Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ma’am; wie heißen Sie?«
»Meinen Namen will ich Ihnen nicht nennen; er tut bei dieser Party nichts zur Sache! Schicken Sie mir die ersten beiden.« Der Polizist machte eine knappe winkende Handbewegung, und zwei junge Männer mit lange nicht gewaschenen Gesichtern, die als Erste in der Schlange standen, kamen herüber und nahmen die Mützen ab. »Meine Freunde«, sagte ›Lady Bountiful‹ mit mitfühlender Stimme, »ich möchte auch Sie zu einem Abendessen einladen!« Sie griff in den Beutel, den die Ältere ihr geöffnet hinhielt, holte zwei halbe Dollar heraus und reichte jedem einen; sie nickten mit dem Kopf und murmelten ihren Dank. »Das ist eine Geburtstagsparty!«, rief ›Lady Bountiful‹, »und ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Auf das Signal des Polizisten hin gingen jeweils zwei Männer zu ihr hinüber und nahmen ihren halben Dollar in Empfang; ein ziemlich großzügiges Geschenk, musste ich mir in Erinnerung rufen. Als der Beutel leer war, holte die Ältere den nächsten.
Während ich hier stand und wartete, überschlug ich es schnell: etwa vierhundert Männer warteten in dieser Nacht vor Fleischmanns Bäckerei, und jeder bekam einen halben Dollar. Und jeder dankte höflich ›Lady Bountiful‹, viele in fremden Sprachen. Dann wandte sie sich freundlich an den Polizisten. »Eine tolle Geburtstagsparty«, sagte sie. »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe recht herzlich danken. Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn Sie nicht gewesen wären!« Der Polizist salutierte gerade, als ihr Blick auf mich fiel – einen Moment lang rechnete ich fast damit, dass ich nun auch einen halben Dollar bekäme. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden Frauen stiegen wieder in den Wagen, und der uniformierte Chauffeur fuhr mit ihnen davon.
Bäcker Fleischmann öffnete seine Tür, Licht fiel auf den Bürgersteig, und die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. »Was bekommen Sie?«, fragte ich den Polizisten. »Kaffee und Brot«, sagte er. Ich wünschte ihm eine gute Nacht, ging zum Plaza und dachte über das nach, was ich soeben erlebt hatte. Und über die Varieté-Leute auf den Stufen ihrer eigenen, abgeschlossenen, heimeligen und doch gnadenlosen Welt.
Im Hotel lag ein rosafarbener Zettel mit einer Nachricht in meinem Fach: Madam Zelda erbittet Ihren Anruf. Ich war mir sicher, dass sie alle noch draußen auf ihrer Treppe saßen, wo sie sich über Varieté, Varieté und nochmals Varieté unterhielten. Also rief ich von meinem Zimmer aus dort an.
Ihre Aufführung für den nächsten Tag war verschoben worden; jemand hatte ihr soeben Bescheid gegeben. Vera – von Vernon und Vera – war von ihrer Pension ins Krankenhaus eingeliefert worden, wahrscheinlich der Blinddarm. Und Madam Zelda hatte mich sofort angerufen, weil die Ersatznummer, die morgen aus Albany ankommen würde, Tessie und Ted hieß. Wenn ich sie mir morgen ansehen sollte – würde ich dann so lange bleiben und mir auch Madam Zeldas Darbietung ansehen, die gleich im Anschluss käme?
Ich sagte, dass ich das ganz sicher tun würde.
22
Den folgenden Morgen verbrachte ich etwas ruhelos im Central Park, wanderte umher, setzte mich auf eine Bank, stand wieder auf und folgte der Wärme der Sonne: Tessie und Ted, Tessie und Ted. Viel zu früh kam ich zur Matinée, kaum mehr als acht oder zehn andere Leute waren in dem großen Saal – alles Männer, einige von ihnen lasen Zeitungen. Und da alle Lichter brannten, sah ich, dass die phantasievollen Stuckarbeiten jetzt noch nicht sehr heruntergekommen waren, noch nicht, sie würden es aber bald sein. Mein roter
Weitere Kostenlose Bücher