Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Lady: der Vorhang ging hoch, und dort stand sie, in einem glitzernden Paillettenkleid, die Arme zur Seite ausgestreckt, mit je einer Taube auf Handgelenk, Ellbogen und Schulter. Sie lächelte, hatte das Kinn vorgestreckt und sah prächtig aus, jung und exotisch. Auf vier Stangen, die an jeder Seite der Bühne aufgestellt waren, saß etwa ein Dutzend weiterer Vögel. Ein Fingerschnippen von ihr, und sie stiegen spiralförmig über der Bühne in die Höhe auf. Maude Boothe, die Dove Lady, hatte eine kleine Pfeife im Mund. Ein metallenes Zirpen, und die Vögel wandten sich in der Luft um und – flogen nicht, sondern glitten über das Publikum, das plötzlich unruhig geworden war, hinweg und hinauf zum Balkongeländer, wo sie sich niederließen und sich mit ihren seltsamen Vogelkrällchen zur Bühne hin ausrichteten.
Das Orchester setzte – dezent – ein, und die Dove Lady dirigierte die Vögel mit kleinen Pfeifensignalen. Sie flogen, ließen sich auf den Armlehnen der Sitze an den Gängen nieder, während die dort Sitzenden sich mit einem unsicheren Lächeln von ihnen abwandten. Die Tauben bildeten auf der Bühne eine vollkommen gerade Linie und saßen so lange regungslos, bis ein Pfiff ihnen einen anderen Befehl gab. Sie ließen einen Gegenstand, was, wusste ich nicht, von Schnabel zu Schnabel gehen, versammelten sich alle auf den Armen, Schultern und dem Kopf der Dove Lady, während sie umherging. Wieder flogen sie, nun in gerader Linie, über uns hinweg, teilten sich dann in zwei Gruppen. Jeder zweite Vogel drehte in die andere Richtung ab, und alle kamen dann in einer geschwungenen Linie zur Bühne zurück, wobei sie ein herzförmiges Muster flogen, und ich … ich sperrte mich gegen dieses Gefühl, es erschien mir als ungerecht, aber ich fand dies alles uninteressant. Es überraschte mich zwar, dass Vögeln so etwas beigebracht werden konnte, aber … sonst? Und obwohl ich – aus Höflichkeit – so laut und heftig applaudierte wie die anderen auch, war ich froh, als die Aufführung vorbei war.
Und aufgeregt. Denn E kam als Nächstes dran, Vera und Vernon … Tessie und Ted. Beinahe wäre ich aufgestanden – ich spürte bereits meine Muskeln sich anspannen – und fortgehen. Ich gehörte nicht hierher.
Aber ich blieb. Die Dove Lady verbeugte sich ein letztes Mal, dann fiel der Vorhang, der erleuchtete Buchstabe wechselte von D zu E, und ich kauerte mich tief in meinen Sitz, die Arme über Kreuz auf dem Bauch, und versuchte unsichtbar zu werden – als sei ich nicht hier. Doch mein Hals wurde immer länger. Auf der Bühne ein Hintergrund: gemalte Bäume, ein Bach – nichts sonst. Ein Flügel und ein Hocker. Und oh, oh, da waren sie wirklich. Tessie, meine Großtante, die nun vielleicht dreißig Jahre alt war. Ich hatte sie niemals kennengelernt. Und neben ihr ging, lächelnd, töricht grinsend, der zwölfjährige Junge, der erwachsen werden, dreimal heiraten und in seiner letzten Ehe ein Kind zeugen sollte und schon mit Mitte vierzig starb, noch bevor sein Sohn zwei Jahre alt war.
Ich besaß zwei Fotografien von ihm. Auf einer ist er ein grinsender College-Schüler mit einem kleinen, flachen Hut, der mit einem Freund zusammen in einem offenen Ford Touringwagen sitzt, auf dessen Motorhaube in weißer Schrift Eulen, hier ist euer Nest steht. Die andere ist ein gestelltes Foto von einem Fotografen: Krawatte, steifer Kragen, steifes Lächeln, Bart. Etwa fünfunddreißig.
Ich kannte diese Bilder und dieses Gesicht gut. Das hier aber war eine andere Version von ihm, die genau hier vor mir auf der Bühne lächelte und nickte, während er den Hocker vor dem Flügel auf die richtige Höhe drehte. Ich wusste, dass er bereits angefangen hatte zu trinken, wahrscheinlich hatte er sich gerade wieder einen Drink genehmigt. Ein zwölfjähriger Junge mit einem Faible fürs Klavier, dort oben mit seiner ehrgeizigen Tante, die uns zulächelte, sich an den Flügel stellte, während er – mein Vater – ein Notenblatt umblätterte, seine Hände in Positur, zu Tess hochblickte und sie – es war ihr Moment, der Höhepunkt ihrer beider Leben – zu seiner Begleitung zu singen begann. »Some … where a voice is cawling«, sang sie, »o-ver land and sea … Some … where a voice …« Die Finger auf der Tastatur gehorchtem ihm willig, spielten gut, in diesem großen Augenblick auf der Bühne. »Caw-ling to me-e-e …« Ihr Gesang war in Ordnung, vermute ich; ich konnte gar nicht richtig zuhören. Saß nur
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