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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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und runter, bevor das Rampenlicht wieder auf die schwankenden Falten des Vorhangs fielen.
    Nun war das Publikum lebendig geworden und freute sich auf den nächsten Auftritt. B erlosch, aber dafür leuchtete C auf. Diesmal machte ich mir nicht die Mühe, im Programmheft nachzusehen; ich wollte mich überraschen lassen.
    Der Vorhang hob sich – was war denn das? Vor dem Hintergrund einer Bergszene erstreckte sich etwas Langes über die Bühne. Käfige. Eine lange Reihe von dreißig Zentimeter hohen Käfigen aus Maschendraht, die auf spindeldürren hölzernen Beinchen nebeneinander standen. In den Käfigen bewegte sich etwas … Tiere … es waren Katzen. Gewöhnliche Katzen, jede in ihrem eigenen kleinen Käfig, der so eng war, dass die Tiere sich nicht umdrehen konnten. Dennoch sahen sie nicht unglücklich aus; eine putzte sich mit Zunge und Pfoten das Gesicht. Die Schwänze der Katzen hingen hinten am Käfig gerade nach unten – aber, natürlich, jetzt sah ich es erst – es waren künstliche Schwänze. Mit schnellen Schritten betrat ein kleiner dürrer Mann in Abendanzug die Bühne: schmales blasses Gesicht mit einem dünnen Schnurrbart, Rock mit Schwalbenschwanz bis zu den Waden. Eine einzige tiefe Verbeugung, die hoch erhobenen Arme schwangen nach unten und berührten beinahe den Boden. Schnell ging er rückwärts bis hinter den ersten Käfig.
    Eine Pause; leise Orchestermusik setzte ein, und er zog fest am ersten Schwanz und heulte gleichzeitig wie eine verwundete Katze; sein Mund wurde durch den Käfig verdeckt. Es ist nicht einfach, mich zu überraschen, aber dieses schreckliche Katzengeheul ließ mich hochfahren. Dann – die Sitzreihen waren unterhalb der Bühne – sahen wir seinen gebeugten Kopf, der über den Käfigen hin und her sauste. Und unter ihnen sahen wir seine hin und her eilenden Beine und das schnelle Ziehen an den falschen Schwänzen. Sie wurden in einer bestimmten Reihenfolge gezogen und jedes Mal von einem schrecklichen Gejaule begleitet. Manche zog er zweimal, raste dann an drei oder vier Schwänzen vorbei, um an einem weiter entfernten zu ziehen, und jedes Aufkreischen, Heulen, Jaulen, Spucken, Wimmern – seine Lippen waren geschlossen, aber nur er konnte es sein – ließ die Katzen völlig ungerührt. Seine Schreie aber klangen echt, und er spielte – oder sang, oder heulte oder was auch immer – ›The Bells of Saint Mary‹! Jede einzelne Note – nur bestanden sie aus dem schnarrenden Todesstöhnen oder Aufjaulen einer gequälten Katze; es war ungeheuer lustig, das Publikum tobte vor Begeisterung, und ihr Lachen übertönte beinahe das schreckliche musikalische Geheul.
    Mit einem Zug an einem Schwanz, der die Käfige erzittern ließ, schloss er ab; dann trat er vor und verneigte sich tief. Sein Arm beschrieb dabei einen auch das dankbare Publikum einschließenden Halbkreis. Anschließend begab er sich wieder hinter die Käfige und nahm seinen irrwitzigen Lauf hinter den Käfigen abermals auf, zog an den Schwänzen und heulte und wimmerte die Noten des – was sonst – ›Turkey Trot‹. Er beendete die Vorstellung mit ›Just a Song at Twilight‹ – Just a jowl at cat moan … when the sob is screech …
    Das Publikum verlangte nach mehr, unser Applaus bewies es, aber der Mann war klüger als wir. Denn noch ein Lied und die ganze Darbietung wäre, glaube ich, langweilig geworden. Dennoch verließ er uns mit einem fabelhaften Finale. Wieder und wieder verbeugte er sich vor dem Publikum, tat dann einen Schritt nach vorn und ließ uns irgendwie – ein Heben der Brauen, eine geringfügige Änderung seiner Haltung – wissen, dass er unserer ungeteilten Aufmerksamkeit bedürfe. Der Applaus verebbte schnell, wir saßen in gespannter Erwartung, er stellte sich an den äußersten Rand der Bühne, beugte sich vor und – im Theater war es äußerst ruhig – schnurrte. Ein rollendes, katzenähnliches Schnurren, das bis zur zweiten Galerie hinauf gehört werden konnte – wir waren überwältigt. Unter tosendem Applaus trat er ab; natürlich gab es einige im Publikum, die seine Katzenlaute imitierten.
    Der Vorhang war gefallen, das Publikum erregt, manche lachten noch leise vor sich hin, und ich fragte mich: was sind diese Varieté-Künstler für Menschen? Wer kam überhaupt auf die Idee, seine Begabung – wenn das das richtige Wort dafür ist – für katzenartiges Miauen und Jaulen zu einer Karriere auszubauen, die seinen Lebensunterhalt sicherte?
    Die Dove

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