Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
noch nie zuvor gesehen hatte. Der kreisförmige Stempelaufdruck lautete: ›New York, N. Y., Main Post Office, Jan. 23, 1882, 6:00 PM.‹ Mit schwarzer Tinte war er an ›Andrew W. Carmody, Esq., 589 Fifth Avenue, City‹ adressiert. Die untere rechte Ecke des Umschlags war leicht verkohlt, als hätte jemand versucht ihn zu verbrennen und das Feuer sofort wieder gelöscht. Ich drehte ihn um – die Rückseite war unbeschrieben –, und Kate sagte: »Schau hinein.«
Innen steckte ein weißes Blatt, in der Mitte gefaltet und an einer Seite angebrannt; es musste im Umschlag gewesen sein, als dieser angezündet worden war. Über dem Falz stand in schwarzer Tinte und in derselben sauberen Handschrift wie die Adresse: Wenn eine Unterredung über den Carrara-Marmor im Court House für Sie von Interesse sein sollte, dann kommen Sie bitte nächsten Donnerstag um halb eins in den City Hall Park. Darunter stand in blauer Tinte ein großes, nur halb leserliches Gekritzel mit vier Tintenklecksen: Dass dieses Sendschreiben die Zerstörung des gesamten Welt (ein Wort schien hier am Ende der Zeile, wo das Papier verbrannt war, zu fehlen) durch Feuer herbeiführte, ist kaum zu glauben. Dennoch ist es so, und der Fehler und die Schuld (ein weiteres Wort fehlte) bei mir. Sie ist weder zu leugnen, noch ist ihr zu entkommen. Dieses erbärmliche Andenken vor Augen, beende ich nun das Leben, das bereits damals hätte beendet sein sollen.
Ich spürte, wie einer meiner Mundwinkel sich zu einem amüsierten Lächeln hob; das alles schien so unwirklich zu sein. Als ich auf das angekohlte Blatt blickte, konnte ich kaum glauben, dass einstmals wirklich Leute existiert hatten, die solch überladen-blumige Briefe verfassten, zum Gewehr griffen und sich töteten. Aber es war nur allzu wahr. Wie altmodisch es auch immer geschrieben sein mochte, dieses Ding in meiner Hand – wieder blickte ich darauf, und mein Lächeln verschwand – war eine Botschaft, die von der Hoffnungslosigkeit der letzten Lebensminuten eines Menschen zeugte. Ich schob den Brief in den Umschlag zurück und sah Kate an. »Das Ende der Welt?«, sagte ich, aber sie schüttelte den Kopf.
»Keiner weiß, was es bedeutet. Außer vielleicht Iras Mutter. Sie kam – ich habe mir das so oft vorgestellt, Si, obwohl es mir nicht gefällt und ich die Geschichte scheußlich finde – in das Zimmer gelaufen, in dem noch der Geruch von Schießpulver hing, und stand plötzlich neben dem Leichnam ihres Gatten, der über den Schreibtisch gefallen war; sie las das und zündete es an. Plötzlich aber erstickte sie das Feuer wieder und bewahrte dann den Brief auf. Sie rief keinen Arzt. Er habe sich durch das Herz geschossen, sagte sie, als sie nach der Beerdigung von den Leuten nach dem Hergang gefragt wurde; jeder Dummkopf hätte erkennen können, dass er tot war. Und so wusch sie die Leiche und bereitete sie für die Beerdigung her. Es war damals nicht unüblich, den Leichnam nicht einzubalsamieren; aber sie ließ weder den Leichenbeschauer noch sonst jemand an den Leichnam heran, bis er im Sarg lag.
In der Stadt sorgte das natürlich für einen Skandal, dessen Auswirkungen Ira, als er noch klein war, mehr als einmal zu spüren bekam. Aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie hielt den Blicken der Leute stand und antwortete auf ihre Fragen, dass sie keine Ahnung habe, was die Notiz bedeute, und dass es niemanden etwas angehe, was sie getan habe. Zehn Tage später ließ sie den Stein auf seinem Grab errichten, und auch dazu gab sie keine Erklärung.
Iras Leben war davon überschattet. So lange er lebte, wollte er wissen, warum sein Vater Selbstmord begangen hatte – und mir geht es ebenso.«
Genau wie mir. Wir sprachen viel in dieser Nacht miteinander. Ich erzählte Kate einiges von mir, vor allem von meiner Ehe und Scheidung und was ich mir davon erklären konnte und was nicht. Das war kein Thema, das ich gerne anschnitt, und es machte mir Mühe, darüber zu reden. Aber trotzdem, und obwohl Kate mir ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte, ging mir Andrew Carmody immer wieder durch den Kopf und die Frage nach dem Warum.
Neugier ist vielleicht der stärkste Instinkt des Menschen, stärker noch als Sex und Hunger: der absolute Drang, etwas in Erfahrung zu bringen. Neugier kann manchmal ein ganzes Leben bestimmen, manchmal auch zum Tod führen, und die Aussicht, sie zu befriedigen, gehört zu den aufregendsten Gefühlen, die es gibt. Also konnte ich es am Freitagvormittag in Dr.
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