Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
Vom Netzwerk:
werden. »Iras Vater war Andrew Carmody, ein ziemlich bekannter Geschäftsmann und Politiker im New York des neunzehnten Jahrhunderts, wenngleich er auch nicht zu den wirklich berühmten Leuten gehörte. Später schien er sein Geschick für Geldgeschäfte verloren zu haben und sein Vermögen dazu. Berühmtheit kann er allenfalls in seiner Funktion als Berater für Präsident Grover Cleveland beanspruchen, während Clevelands zweiter Amtszeit in den Neunzigern, zu der Zeit, als Ira geboren wurde.«
    Ich nickte und sagte, nur um auch etwas zu sagen: »Welche Art von Ratschlägen hat er ihm gegeben?«
    Kate lächelte. »Das weiß ich nicht. Nichts Besonderes, nehme ich an. Als historische Gestalt gibt er nicht viel her. Ira sagte immer, selbst in einer sehr gründlichen und detaillierten Untersuchung von Clevelands zweiter Amtszeit würde sein Vater allenfalls eine Fußnote sein. Aber für Ira spielte er eine wesentlich größere Rolle, denn als er noch ein Kind war, keine Ahnung wie alt er damals war, hat sich sein Vater das Leben genommen. Und bis zum Ende seines Lebens hat ihn der Gedanke daran nicht mehr losgelassen.«
    Kate zog nun die Hand aus der Mappe und hielt ein kleines rechteckiges Schwarz-Weiß-Foto zwischen den Fingern. »Andrew Carmody war pleite, er hatte sein letztes Geld verloren. 1898 schließlich zogen er und seine Frau nach Montana, in eine kleine Stadt namens Gillis. Jahre später, in den Dreißigern, als Ira Gillis bereits verlassen hatte, fuhr er zurück und überquerte den halben Kontinent, nur um sicherzugehen, dass das Grab seines Vaters noch immer so aussah, wie er es als kleiner Junge in Erinnerung hatte.«
    Kate gab mir die kleine Fotografie. »Das ist das Bild, das Ira in diesem Sommer gemacht hat: der Grabstein seines Vaters. Ich nehme an, er steht dort noch immer; irgendwann würde ich ihn gerne einmal sehen.«
    Ich konnte nicht erkennen, was ich auf diesem Schnappschuss in meiner Hand vor mir hatte. Dann erkannte ich die Form: die Art von Grabsteinen, wie sie Grabsteindesigner manchmal zeichnen. Eine altmodische gerade Steinplatte, deren oberes Ende sich zu einem perfekten Halbkreis rundet. Dieser Stein hier schien kaum einen halben Meter hoch zu sein – er war sehr viel kleiner als andere seiner Art – und stand auch nicht mehr senkrecht, sondern war nach links geneigt. Das Foto war scharf und klar; er musste es bei hellem Tageslicht aufgenommen haben. Der Stein stand auf dem dünn mit Gras bewachsenen Grab, einige welke Löwenzahnblüten waren zu sehen. Ein altes Grab, dessen einstiger Hügel eingefallen und nun auf gleicher Höhe mit der umliegenden Erde war. Dann bemerkte ich irritiert, dass auf dem Grabstein kein Name stand; nur eine Zeichnung war darauf zu sehen. Ich hielt die Aufnahme näher an die Augen und rückte ins Licht der Lampe, die neben dem Sofa stand.
    Die Zeichnung bestand aus einem neunzackigen Stern innerhalb eines Kreises; gebildet war er aus neunzig oder hundert Punkten, die der Steinmetz säuberlich in den Stein gehauen hatte. Die Spitzen des Sterns berührten den Kreis; die Zeichnung bedeckte fast die gesamte Oberfläche des Grabsteins. Die Fotografie war gut, jeder Punkt war als schattige Vertiefung auf der rauen Steinoberfläche zu erkennen, der verwitterte, halbkreisförmige Abschluss des Steins zeichnete sich klar gegen den dunkleren Hintergrund aus harter Erde und dünnem Gras ab, die umliegenden Grabsteine in der Umgebung waren leicht unscharf.
    Mir kommt es vor, als hätte ich damals eine volle Minute über dem Foto gesessen und es angestarrt. Eine Minute ist eine lange Zeit; es besaß die Faszination vollkommener Realität; irgendwo in diesem Land, außerhalb einer kleinen Stadt in Montana, stand dieser fremdartige Grabstein, wahrscheinlich noch immer, verwittert, spröde geworden durch Jahre der Hitze und Kälte, durch die wechselnden Jahreszeiten, durch Regen und Sonne. Schließlich sah ich Kate an. »Das hat seine Frau auf seinem Grab anbringen lassen?«
    Kate nickte. »Es hat Ira sein ganzes Leben lang befremdet.« Ihre Hand kramte wieder in der Mappe. Dann zog sie ein Papierstück heraus, einen langen, rechteckigen, taubenblauen Umschlag. Kate sagte: »Sein Vater hat sich erschossen. An einem Nachmittag im Sommer. Er saß an seinem Schreibtisch in dem kleinen Haus. Und das hat er auf dem Tisch zurückgelassen.«
    Ich nahm den Umschlag. Er trug eine abgestempelte Drei-Cent-Briefmarke mit dem Profil von Washington, in einer Darstellung, die ich

Weitere Kostenlose Bücher