Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
Vom Netzwerk:
im achtzehnten Jahrhundert Perücken bestanden, oder wie man 1926 in einer Metzgerei in New England Schweineschmalz verpackt hat. Ich werde die Vergangenheit durchwühlen, um es für dich herauszufinden. Am Wochenende habe ich in den Achtzigern gegraben. Eine ungeheuer vernachlässigte Periode, obwohl mir der Grund dafür nicht klar ist, denn in dieser Zeit ist viel Interessantes passiert.
    Aber ich bin nicht hier, um dich mit Fakten vollzustopfen. Du kommst im zwanzigsten Jahrhundert ja auch zurecht, selbst wenn du nicht alles darüber weißt.« Martin erhob sich und ging zu der ihm am nächsten stehenden Figur; er ergriff das Laken. »Und deshalb musst du auch nicht alles über die Achtziger wissen. Aber du musst sie spüren können.« Er riss das Laken von der Puppe herunter.
    Sie trug ein altes Kleid. Ein schlaff herabhängendes Ding aus schwerem, dunklem Material. Ich stand auf und trat näher, um es genauer betrachten zu können. Es hing formlos an der Puppe, der Saum berührte fast den Boden, die langen vollen Ärmel standen steif ab. Im Nacken war es hochgeschnitten, ein filigranes Muster aus kleinen schwarzen Perlen säumte Dekolleté und Ärmel. Martin sagte: »Wir haben das aus dem Smithsonian für dich als Anschauungsmaterial ausgeliehen. Es wurde in den frühen Achtzigerjahren hergestellt und getragen. Die Leute schlendern heutzutage durch das Smithsonian, sehen solche Dinge und glauben, dass die Frauen damals so gekleidet waren.« Er schüttelte den Kopf. »Aber so war es nicht. Präge dir ein, dass es so nicht war. Schau dir einmal die Farbe an! Wenn man es denn noch Farbe nennen kann. Die alten Färbemittel haben die Zeit nicht überdauert, Si!«, sagte er, als hätte ich das Gegenteil behauptet. »Seit Jahrzehnten bleicht dieses Ding vor sich hin, wird blasser, bis es schließlich überhaupt keine Farbe mehr hat. Und beachte den Stoff – zerknittert, verzogen, an anderen Stellen fadenscheinig geworden. Ich meine, aus den Stoffen ist jedes Leben gewichen. Selbst die Perlenfassung ist schwarz geworden.« Martin berührte meine Schulter. »Das ist es, was du verstehen musst, mehr noch, du musst ein Gefühl dafür entwickeln. Die Frauen in den Achtzigern waren keine Gespenster. Sie waren sehr lebendige Frauen, und sie hätten niemals diesen Lumpen hier getragen!« Mit dem Daumen zeigte er verächtlich auf das Kleid. »Die Frau, die das einst besessen hat – wie sah dieses Kleid in Wirklichkeit an ihr aus, als sie es damals trug? So sah es aus, wenn sie damit auf ein Fest ging!«
    Martin riss das Laken von der nächsten Figur, und dort befand sich – ich würde es nicht ein Kleid nennen, sondern eine Robe – eine Robe aus leuchtend weinrotem Samt, dessen weiche Falten sich fast bis zum Boden ergossen. Das Geschmeide zog das Licht an und funkelte in dunklem Rot und verlieh dem Gewand ein Schimmern, als würde es sich bewegen. Unter dem Deckenlicht glühte es wie ein Juwel. »Wir haben dieses Original gewählt«, Martin deutete auf das traurige Kleid aus dem Museum, »da das Museum Aufzeichnungen darüber besitzt, wann und wie es geschneidert wurde und welche Muster, Stoffe und Materialien Verwendung fanden. Wir haben eine Kopie herstellen lassen«, er befühlte den Stoff, seine Finger konnten dem frischen roten Samt nicht widerstehen, »die weit mehr dem entspricht, was die Frauen damals getragen haben, als das Original.« Er sah mich herausfordernd an, dann zeigte er auf die neue Robe. »Kannst du dir eine Frau aus Fleisch und Blut vorstellen, Si, eine junge Frau, die das da trägt – sie muss umwerfend darin aussehen.«
    Und ich sagte: »Verdammt noch mal, ja; ich sehe sie vor mir, wie sie tanzt.«
    In den nächsten Stunden betrachteten wir das alte Kleid, das an den Rändern braun war und das – kaum noch vorstellbar – das Festgewand einer jungen Frau gewesen war. Dann studierten wir die Kopie aus frischem, blumig rosenfarbenem Stoff, die so aussah wie einst das Original. Und ich wurde schließlich – als hätte er überlebt und hätte sich so erhalten, wie er damals war – mit dem Anzug eines Jungen mit Messingknöpfen und knielangen Hosen vertraut gemacht, der Uniform eines Briefträgers, dem Anzug eines Mannes, inklusive Cutaway mit seidenem Revers, zerknittert und verstaubt im Original, frisch und glänzend als Kopie.
    Während der ganzen Woche – ich ertappte mich dauernd dabei, an meinem sprießenden Bart zu zupfen – besahen wir uns eine Kollektion von Herren- und

Weitere Kostenlose Bücher